Geliebte Gefangene
herrührte.
Schließlich klopfte sie leise an die Tür.
Von drinnen war ein Geräusch zu hören. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und das Gesicht eines jungen Mädchens erschien in der Öffnung. „Madam?“
„Ich bin’s“, sagte Anne. „Lass mich rein.“
Der Raum war winzig. Er enthielt zwei Pritschen, eine für das Kindermädchen, das sich wieder zusammenrollte und Anne aus verschlafenen Augen ansah. Auf der anderen schlief ein Kind von etwa zehn Jahren, das eine Stoffpuppe im Arm hielt. Das Mädchen hatte langes dunkles Haar, das sich anmutig um sein Gesicht lockte. Es bewegte sich ein wenig im Schlaf und murmelte etwas Unverständliches, bevor es sich auf die Seite drehte und die Puppe dichter an seine Brust zog.
Anne sah das Kind einen Moment lang an und flüsterte: „Ist Ihre Hoheit wohlauf, Meg?“
„Ja, Mylady.“ Das Kindermädchen warf einen schnellen Blick zu ihrem Schützling hinüber. Ihr Gesicht verzog sich zu einem sanften Lächeln. „Manchmal weint sie im Schlaf und ruft nach ihrem Vater, aber das kann niemand hören.“
Anne nickte. „Es ist eine Nachricht gekommen. Er wird bald nach ihr schicken. Eine Woche noch, höchstens zwei.“
Die Augen des Mädchens weiteten sich. „Gott sei Dank! Endlich!“ Sie zögerte. „Ich hatte solche Angst, als ich hörte, dass General Malvoisier Grafton bedrohte.“
Anne winkte ab. „Fürchte dich nicht. Bald kommt ihr nach Hause. Wir werden bereit sein, wenn der König nach euch schickt.“
Das Kindermädchen kuschelte sich tiefer in ihre Decken und lächelte. „Es wird nicht mehr lange dauern. Seine Majestät wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seine Tochter in Sicherheit zu wissen.“
„Das hoffe ich“, sagte Anne. „Gibt es in der Zwischenzeit noch etwas, was ihr braucht?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Eure Leute haben uns fürstlich behandelt, Madam, obwohl sie nicht wussten, wer wir sind.“
Anne lächelte. „Das freut mich.“ Sie drückte die Schulter des Mädchens. „Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Ich habe nur wenig Zeit. Aber falls ihr doch noch irgendetwas braucht, sprecht mit Edwina. Sie wird mir dann Bescheid geben.“
Die junge Frau nickte und unterdrückte ein Gähnen. „Danke, Mylady. Gute Nacht.“
Anne verließ die Kammer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie konnte das Geraschel der Mäuse und das Schnarchen der Stallburschen auf dem Heuboden über sich hören. Sie waren treue Burschen und hatten die Neuankömmlinge ohne weiteren Kommentar in ihrer Mitte akzeptiert. Anne hatte ihnen erzählt, dass Meg die Witwe eines königstreuen Soldaten sei und dass sie und ihre Tochter für einige Zeit in Grafton Zuflucht suchen mussten. Niemand hatte das hinterfragt, aber vermutlich wussten alle, dass mehr dahintersteckte. Doch sie würden sie nie verraten. Also half Meg in der Küche, und Prinzessin Elizabeth von England spielte mit ihren Puppen vor dem Herdfeuer und freundete sich mit den Pagen und Küchenmädchen an. Wieder einmal wurde sich Anne bewusst, dass das beste Versteck doch immer das unter der Nase der Suchenden war.
Sie trat hinaus in den Hof vor den Ställen, blieb einen Moment stehen und gestattete sich einen tiefen Atemzug in der kalten Nachtluft. Die Sterne strahlten hell und klar am dunklen Himmel. Nun musste sie nur noch ungesehen in die Sakristei zurückkehren.
Leise huschte sie um die Stallgebäude. Auf der Burgmauer über ihr stand eine Wache, bemerkte sie aber nicht. Sie erreichte den langen, kalten Gang an den Lagerräumen und eilte weiter, an der Speisekammer vorbei, in die Küche … Der Küchenjunge murmelte etwas im Schlaf und rollte sich näher zum wärmenden Feuer.
Anne trat in den Burghof hinaus. Jetzt wurde es gefährlich.
Wenn die Männer sie zu nah an den Ställen fanden, würden sie wieder weitersuchen, und vielleicht würde diesmal jemand klug genug sein, die Verbindung zu erkennen. Und er würde verstehen, dass Schätze in allen Arten und Formen existierten, nicht nur als Gold und Silber … Jeden Tag hatte sie mit der Angst gelebt, dass Simon oder einer seiner Männer die Identität des kleinen Mädchens in ihrer Mitte durchschauen würden. Des Mädchens, das die Tochter des Königs von England war. Wenn Elizabeth erkannt würde, wäre das das Ende der Sache des Königs. Denn was würde er wohl geben, um das Leben seiner Tochter zu retten? Vermutlich sein eigenes.
Die Höflinge, die die Prinzessin vor sechs Monaten dem Earl of Grafton
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