Geliebte Gefangene
wie die Haupttür der Kirche mit einem Krachen aufflog. Es folgten hastige Schritte, die über den Steinboden eilten, und laute Stimmen, die schnell in verspäteter Ehrfurcht gesenkt wurden. Jemand rüttelte in dem Versuch, die Tür zu öffnen, am Türgriff der Sakristei.
„Verriegelt, Mylord! Sollen wir sie aufbrechen?“
„Nein“, hörte sie Simons Stimme. Er musste unmittelbar vor der Tür stehen. „Noch nicht. Der Priester hält diese Tür normalerweise verschlossen. Ich will nicht unnötig Schaden anrichten.“
Anne rührte sich nicht. Jackson hatte offenbar nicht lange gezögert, um Verstärkung zu holen. Er war schneller gewesen, als sie gehofft hatte. Und Simon hatte mit all der Entschlusskraft reagiert, die sie schon von ihm gewohnt war.
Jackson Stimme war leise und eindringlich, und er klang bestürzt. „Wir haben schnell alles durchsucht, Mylord, aber Lady Anne haben wir nicht gefunden. Sie muss in die Kirche gegangen und sie sofort wieder durch den Haupteingang verlassen haben, genau wie ich es befürchtet habe.“
Anne hielt den Atem an. Sie war erfüllt von der abergläubischen Furcht, dass die kleinste Bewegung, der leichteste Atemzug sie verraten würde. Simon war ihr schon zu nahe. Sie konnte beinahe fühlen, wie er nach ihr griff, in ihren Verstand eindrang, um ihre Pläne zu ergründen. Es war ein schreckliches Gefühl. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass es etwas Unausweichliches gab, das sie an Simon Greville band, und nun fühlte sie sich, als ob sie ihm niemals entkommen könnte.
„Mylord?“, fragte Jackson. „Wollt Ihr, dass ich eine Hausdurchsuchung anordne?“
„Nein“, erwiderte Simon. „Schlagt keinen Alarm. Jedenfalls jetzt noch nicht.“
Es wurde immer kälter, und Anne hatte eine Gänsehaut. Ihre Gedanken rasten.
„Geht durch den Haupteingang und überprüft die Halle und die unteren Zimmer. Zwei Männer sollten dazu reichen. Ich werde in die Lange Galerie gehen und die oberen Zimmer durchsuchen“, erklärte Simon. „Und Jackson …“ Seine Stimme entfernte sich, als ob er sich bereits auf den Weg gemacht hätte. „Seid leise.“
Anne konnte Jacksons Antwort schon nicht mehr verstehen. Sie hörte noch den gedämpften Klang der Schritte auf den Pflastersteinen, dann war alles still.
Sie hatte nur wenige Minuten. Wenn sie das Gut noch einmal mit all der entschlossenen Gründlichkeit durchsuchten, die sie von Simon schon kannte, würden sie den gesamten Haushalt aufwecken. Schließlich würden sie sich von Pater Michael den Schlüssel zur Sakristei geben lassen. Zu dem Zeitpunkt wollte sie auf jeden Fall wieder zurück in der Kirche sein, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.
Sie öffnete das Fenster einen Spalt weit. Unter ihr war alles ruhig. Der Burghof lag leer und still im Mondlicht, und die Ecke unter dem Fenster war dunkel. Anne zog sich aus dem Fenster und auf den Sims davor. Ihre Finger umklammerten die Mauerkappe. Als Kind hatte sie die Dächer Graftons ohne jede Furcht erkundet, doch jetzt erschreckte sie der kurze Sprung zu Boden. Ein gebrochener Knöchel, den sie sich mitten in der Nacht im Burghof zugezogen hatte, würde sich nicht einfach wegerklären lassen.
Sie schluckte ihre Angst hinunter und sprang. Unglücklich kam sie auf den Pflastersteinen auf und verbiss sich einen Schmerzenslaut. Sie drückte sich gegen den grob behauenen Stein der Burgmauer. Kein Laut. Keine Bewegung. In der Kirche brannte jetzt Licht. Und das Fenster über ihr stand weit offen. Sie hatte vergessen, es hinter sich zuzuziehen, bevor sie gesprungen war.
Doch es war zu spät. Von der anderen Seite des Hofes klangen die Geräusche der Wachablösung zu ihr herüber, und Anne duckte sich in den Durchgang zur Küche. Drinnen herrschte absolute Finsternis. Glücklicherweise kannte sie sie seit einundzwanzig Jahren und konnte sich in der Dunkelheit zurechtfinden.
Sie eilte durch die Küche, in der ein Küchenjunge vor dem heruntergebrannten Feuer lag und gähnte, vorbei an der Speisekammer, an den Lagerräumen entlang und huschte leise wie eine Maus durch einen Korridor. Links herum, rechts, durch den Bedienstetenschlafraum, in den Hof bei den Ställen und schließlich in das Gebäude, in dem die Pferdeknechte und der Kutscher schliefen. Am Ende des Gangs war eine kleine Sattelkammer. Sie blieb stehen, außer Atem, und spürte immer noch den scharfen Schmerz in ihrem Knöchel, der von ihrem Sprung aus dem Kirchenfenster und dem Aufprall im Burghof
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