Geliebte Gefangene
noch Freude und Festlichkeit geherrscht hatten. Das Essen stand verlassen und kalt auf den Tischen. Die Frauen sprachen leise untereinander, aber es gab keine Panik. Die Menschen von Grafton hatten schon vorher Krieg erlebt. Sie waren gefasst und bereit.
Edwina und Muna kamen zu ihr und standen neben ihr, jede auf einer Seite ihres Stuhls. Anne hielt beiden eine Hand hin. Sie wusste, dass sie ihr Trost spenden wollten, aber alles, an was sie denken konnte, war, dass Simon in die Dunkelheit hinausritt, in eine blutige Auseinandersetzung mit Malvoisiers Männern.
Fest drückte Edwina ihre Hand.„Er wird zurückkommen, Madam“, flüsterte sie. „Alles wird gut ausgehen.“
Anne erhob sich. Auch wenn sie ihre Gefühle für Simon vor dieser Nacht infrage gestellt hatte, konnte sie diese nun im Angesicht der Gefahr und seines möglichen Todes nicht länger leugnen. „Er sollte besser zurückkommen“, sagte sie hitzig. „Denn, Gott helfe mir, ich liebe ihn, und wir müssen diese Sache, die zwischen uns steht, klären, bevor es zu spät ist.“
Hufgeklapper hallte durch den Raum, und sie alle hörten, wie Simons Truppen über die Zugbrücke galoppierten. Und dann war da nur noch Stille, und es gab nichts mehr für sie zu tun, als zu warten.
„Madam!“ Jemand rüttelte sie am Arm. Für einen Moment sah Anne nur Flammen vor sich und glaubte, wieder im Tempest Tower zu sein, in der Nacht, in der ihr Vater gestorben war. Dann blinzelte sie und verstand, dass sie vor dem Feuer eingeschlafen war. Um sie herum wälzten sich die Frauen und Kinder von Grafton in unruhigem Schlaf.
„Madam, wacht auf!“, sagte Edwina noch einmal. Im Licht des Feuers war ihr Gesicht von tiefen Sorgenfalten durchzogen.
„Was ist passiert?“ Angst presste Anne das Herz zusammen. „Mylord? Ist er verletzt?“
„Wir haben noch keine Nachricht erhalten. Es ist die Prinzessin. Sie ist verschwunden.“
Hastig setzte Anne sich auf. „Wie bitte? Das ist unmöglich!“
Prinzessin Elizabeth und Meg waren ebenfalls zum Fest eingeladen worden, denn ihre Abwesenheit hätte sehr wohl bemerkt werden können und das hätte gewiss Gerede gegeben. Anne hatte dafür gesorgt, dass sie sich unter die Leute mischten, die sich im Burghof drängten und sich damit fern von Simons aufmerksamem Blick befanden. Als der Alarm gegeben wurde, hätten sie zu ihrer eigenen Sicherheit in die Halle kommen sollen, aber Anne wurde nun bewusst, dass sie sie nicht gesehen hatte. Ein ungutes Gefühl der Furcht erfasste sie.
„Wir wissen nicht, wo sie ist, Madam.“ Edwinas Augen waren rot vor Erschöpfung. „Meg und ich haben überall gesucht! Wir wollten Euch nicht vorher damit belästigen. Wir vermuten, dass sie gehört hat, wie die Männer über den Angriff geredet haben. Sie wird wohl gedacht haben, dass die Soldaten Männer des Königs sind, und ist losgelaufen, um ihren Vater zu suchen.“
Bei dem Gedanken, dass die kleine Prinzessin in dem Glauben, sie würden ihr helfen, Malvoisiers Männern in die Hände fallen könnte, löste sich ein Schrei von Annes Lippen. „Nein!“
„Sie ist nur ein Kind, Madam“, sagte Edwina unglücklich. „Sie wird nicht verstehen, dass es einige royalistische Soldaten gibt, denen man nicht trauen kann.“
Mühsam kam Anne auf die Füße. „Wo ist Meg jetzt?“
„Sie durchsucht noch einmal die Ställe, Madam.“
„Dann müssen wir ihr helfen.“ Anne blickte sich um. „Weck Muna auf. Sie muss sich hier um alles kümmern, während ich weg bin.“
Im Burghof war es bedrückend ruhig, als sie zu den Ställen eilten. Simon hatte seine Truppen aufteilen müssen, und einige Männer patrouillierten auf den Wehrgängen und vor dem Torhaus. Die Zugbrücke war hochgezogen und die Burg gesichert. Anne zuckte zusammen und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was wohl gerade im Dorf passierte. Plünderungen und Brandschatzen … Das Gut hatte gerade damit begonnen, sich nach den Verwüstungen durch Malvoisiers Herrschaft wieder zu erholen. Und nun müssten sie wieder von vorne anfangen …
Sie trafen Meg an der Stalltür. Ihr Gesicht war weiß vor Angst und ihre Augen rot verweint. Hilfe suchend griff sie nach Annes Arm, und die Worte sprudelten mit derselben Verzweiflung aus ihr heraus, die ihr auch in den Augen stand. „Möge Gott mir verzeihen, Madam! Ich habe überall gesucht, und ich kann sie nicht finden! Wir waren im Hof, als die Nachricht vom Angriff kam, und ich habe nur für einen Moment nicht aufgepasst, und dann
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