Geliebte Korsarin
Granaten.
Rainherr richtete sich wieder auf und ging zu Juan auf den Steuerstand.
»Das ist ein regelrechtes kleines Kriegsschiff«, sagte Andreas Rainherr. »Mit den beiden schweren Maschinengewehren und diesem Geschütz können sich die Piraten ein Seegefecht leisten, vor allem auch, weil sie mutiger als die amtlichen Patrouillenboote sein werden. Ich war zwar nie bei der Marine, aber soviel sehe ich: Dieses Schiff kann man in Minutenschnelle klar zum Gefecht machen. Man ist sogar auf Schnellfeuer eingerichtet!«
Er lehnte sich gegen die Wand des Ruderstandes und blickte über die Hunderte von kleinen Atollen. »Und so etwas hat eine Frau ausgeknobelt und befehligt es sogar!«
»Allerdings … eine wunderschöne Frau, Chef!« antwortete Juan und lavierte die Yacht weiterhin über gefährliche Untiefen und Riffe.
»Ich begreife das einfach nicht! Wer so ein Boot unter sich hat, wer eine solch perfekte Piraterie betreibt, kann das doch nur mit Grausamkeit und Härte. Die Geschichte der Freibeuter beweist es: die schwarze Flagge mit dem Totenkopf war ihr Symbol. Wo sie auftauchte, war der Tod. Aber Mary-Anne kann nicht töten, kann kein Blut sehen, läßt uns leben, und als sie mir sogar das Leben rettete und diesen Pedro erschießen mußte, war es, als stürze für sie eine Welt zusammen! Ich begreife das einfach nicht.«
»Aber sie hat Erfolg, Chef.«
»Sie ist überhaupt nicht der Typ einer Verbrecherin.«
»Sie betrachtet sich ja auch nicht als eine solche.«
Und dann sagte Juan Noales aus seinem angeborenen Instinkt heraus etwas, worüber sich Rainherr schon lange Gedanken gemacht hatte:
»Ich glaube, Chef, da steckt etwas anderes dahinter! Ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll … etwas Seelisches. Miss Tolkins muß irgendeinen schweren inneren Knacks bekommen haben … früher einmal. Sie ist jedenfalls nicht so, wie sie sich gibt.«
»Juan, du bist ein kluges Bürschchen.«
Dr. Rainherr griff nach dem Sprechfunkgerät und stellte auf der Funkanlage, die besser war als die seine auf der ANNETTE I, die Wellenlänge von Cayman Brac ein.
Annette war sofort zur Stelle. Sie schien auf den Anruf gewartet zu haben.
»Vati, wo bist du?« rief sie. Aus ihrer Stimme, so weit weg sie auch war, hörte man ihre große Sorge heraus.
»Mir geht es gut, Kleines«, rief Rainherr zurück.
»Wirklich?«
»Keine Sorge, mein Mädchen. Hörst du das Motorengebrumm und das Meer an der Bordwand? Wir fahren durch die wunderbaren Cays, Richtung Heimat!«
»Du kommst zurück, Vati?«
Das war wie ein heller Aufschrei. Rainherr blickte kurz zu Juan hinüber, der breit lächelte.
»Gesund und munter, Kleines. Und wenn ich wieder bei dir bin, dann schlafe ich erst einmal zwei Tage an einem Stück – und dann fahren wir gemeinsam zu den Britischen und Niederländischen Jungfern-Inseln.«
»Die kenne ich noch nicht, Vati!«
»Siehst du, ich auch nicht. Bis bald, mein Kleines.«
»Ruf heute noch wieder an, Vati …«
»Mach ich, mein Liebling.«
Er schaltete die Funkanlage auf den Seefunk um und hörte die einzelnen Wettermeldungen. Dann versuchte er den großen Trick der ALTUN HA und hängte sich in den Polizeifunkverkehr und in den Marinefunk hinein. Er brachte nichts Aufregendes. Das ›Gespenst der Karibik‹ war ja nicht im Einsatz …
Andreas Rainherr schaltete alles aus und hob plötzlich den Kopf. Er schnupperte in die Luft und stieß Juan an.
»Riechst du etwas?« fragte er.
»Doch. Aber ich dachte, ich hätte mich geirrt, Chef.« Juans Nase bewegte sich wie ein Rüssel. »Schweinebraten mit Paprika schätze ich, Sir …«
»Das ist doch irre! Wo kommt denn der Geruch her?«
»Wir sind mitten in den einsamsten Cays, Chef. Da kann er nicht herkommen.«
»Juan!«
»Chef?«
»Sag die Wahrheit: Hast du heimlich McDonald mitgenommen?«
»Ich schwöre, Sir: Nein!«
Dr. Rainherr holte aus der Schublade unter dem Kartentisch eine Pistole heraus, lud sie durch und rannte dann von der Brücke. Er stürzte den Abgang zum Salon herunter und blieb an der Schwelle des luxuriösen Raumes wie angewurzelt stehen.
Ein Tisch war für zwei Personen gedeckt. In einem silbernen dreiarmigen Kerzenleuchter brannten drei lange violette Kerzen. Kristallgläser funkelten. Eine Flasche echter Bordeaux stand bereits entkorkt neben dem Leuchter. Die Tür zur Küche war offen – und am Herd stand, eine Schürze umgebunden, Mary-Anne Tolkins.
Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, nickte sie Rainherr zu und
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