Geliebte Korsarin
gelungene Werk und versprach etwas, was er dann auch in seinem späteren Leben nie gebrochen hat:
»Miss! Wenn Sie mich brauchen, ganz gleich, wofür, und ich bin in der Nähe: Rufen Sie mich! Ich tue alles für Sie!«
Nach einem halben Jahr sagte Señora Palmar zu Joanna: »Mein Kleines, ich bekomme Gicht in die Finger. Ich spüre es. Die Gelenke brennen und knacken manchmal, und das Fingerspitzengefühl läßt nach. Wenn ich mal nicht mehr kann … willst du den Laden haben? Ich überlasse ihn dir gegen eine Rente für mich. Als Künstlerin kann ich ja weiter tätig sein und neue Bilder für dich entwerfen …«
»Ich weiß es nicht«, sagte Joanna nachdenklich.
»Was möchtest du denn dann, Mädchen?«
»Einen Paß auf den Namen Mary-Anne Tolkins.«
»Warum denn das?«
»Ich habe im Leben noch einiges vor. Und dazu brauche ich diesen Paß. Kannst du so etwas beschaffen?«
»Señora Palmar kann alles! Aber so ein Ding, wenn es wirklich echt sein soll, kostet seine tausend Dollar!«
»Ich habe sie gespart.«
Zehn Tage später kam Madame Palmar von Freunden, wie sie sagte, zurück und warf Joanna einen amerikanischen Paß auf den Tisch. Mit ihrem Foto, mit echten Stempeln – alles einwandfrei!
Mary-Anne Tolkins war geboren.
X
Sie lagen noch immer nebeneinander in dem alten verrotteten Fischerkahn und genossen das Glück, ihre Körper zu spüren.
Mary-Annes Kopf lag noch immer auf seiner Brust, und ihre Brüste drückten sich in seine Seite. Ab und zu zuckte ein Frösteln durch ihren Leib …
Dann schob sie ein Bein über seine ausgestreckten Beine, ihre Hand über seinen Schenkeln rutschte zwischen sie, als könnten die Innenseiten sie wärmen. Er legte seinen Arm um ihren Rücken, breitete ihre langen schwarzen Haare über sie und atmete den Duft ihrer Nähe ein.
Hinter dem Palmenwald des Hotels war jetzt der Mond voll hervorgetreten und schickte Silberstreifen über das sich träge bewegende Meer innerhalb der Riffe. Außerhalb, wo sich die Wellen brachen, schäumte die See, als koche Silber aus einem Kessel.
Es war eine Nacht, die – wenn man sie malen würde – Kitsch genannt werden würde. Warum eigentlich? Warum will der Mensch seine Welt durchaus nüchterner sehen, als die Natur selbst sie ihm täglich immer wieder anders vormalt? Kann der Mensch nicht ertragen, daß die Natur schöner ist, als er sie begreifen kann?
»Mary-Anne Tolkins«, sagte Andreas Rainherr zärtlich. »Mit dem Paß kam die Piratin …«
»Nein!«
Ihre Stimme klang nicht mehr weich. Sie küßte ihn auf den Mund, legte ihren Kopf dann wieder seitlich auf seine Brust und starrte in den Mondschein und in den ungeheuer weiten Sternenhimmel.
»Drei Jahre blieb ich in Madame Palmars Salon. Ich verdiente gut … wir teilten uns die Einnahmen. Dann trat etwas ein, was mich völlig veränderte.«
»Ein Mann«, sagte er. »Du hast dich in einen Mann verliebt?«
»Nein!«
Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren von einer glänzenden Schwärze.
»Ich begegnete dem Mörder meiner Familie: Raimondo Vargas!«
Es war eine dumme, um genau zu sein, eine lebensgefährliche Situation, in der sich Vargas befand, als auch nach einer Woche die letzte Überlebende der Taboras, die ältere Tochter Joanna, noch nicht gefunden worden war.
Zwar stellten Polizei und Militär die Suche nach dem Mörder bald ein. Die untersuchenden Beamten stellten die logische Folgerung auf, daß der unbekannte grausame Mörder, der lautlose Tod, wie ihn die indianischen Landarbeiter bald nannten, auch die Tochter Joanna umgebracht und irgendwo in den Bergen, in einer Höhle oder Schlucht, verscharrt hatte. Nur ein Zufall würde eines Tages die Gebeine zutage fördern, und dann würde man es genau wissen und würde die Akten über den Fall Tabora endgültig schließen können.
Die Staatsanwaltschaft in Monteria stellte die aktiven Ermittlungen ein und legte die Akte Tabora als ›in einem Fall noch nicht geklärt‹ in ein Seitenfach des Aktenschrankes. Man war allerdings insgeheim der festen Ansicht, daß das Verschwinden Joanna Taboras auch nie geklärt werden würde.
In Kolumbien waren schon so viele Menschen verschwunden … in den Sümpfen, an der Küste, in den Savannen, im unzugänglichen Hochland, in den Urwäldern, in den Quellgebieten des Orinoko, in Landstrichen, die man nur vom Flugzeug aus kannte und wo bis heute noch kein Europäer die undurchdringliche Grüne Hölle erobert hatte. Einmal zwar würde das der Fall sein, Geologentrupps arbeiteten
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