Geliebte Kurtisane
Sie mich umbringen.“
Alles zu seiner Zeit, dachte Mark. Die Zeit des Erbarmens war noch nicht gekommen.
„Sie sind erbärmlich“, stieß Mark in blinder Wut hervor und hieb Westons Kopf ein weiteres Mal gegen den Stamm. Westons Knie gaben nach, und er sank in sich zusammen. Atemloses Raunen ging durch die Menge, die sich um sie versammelt hatte. Mark ließ von Weston ab und sah ihn reglos zu seinen Füßen liegen. Eine ganze Weile stand er einfach nur da, versuchte, zur Ruhe zu kommen. Er spürte nichts als seinen Ingrimm, hörte nichts außer dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Schließlich hockte er sich hin und fühlte Westons Puls. Er schlug stark und stetig.
Nein, er wurde nicht verrückt. Er hatte nicht alle Beherrschung verloren. Er hatte sich nicht von seiner Erregung überwältigen lassen – er hatte sie sich zunutze gemacht. Und darum war er froh.
„Jemand sollte einen Arzt holen“, rief er über die Schulter. „Er wird bald wieder zu sich kommen, dürfte dann aber empfindliche Kopfschmerzen haben.“
Damit stand er auf und ging davon. Hinter sich hörte er ein ehrfürchtiges Wispern durch die Menge gehen.
„Das war Sir Mark“, sagte jemand.
„Weston muss es sich wirklich verdient haben“, meinte ein anderer. „Sonst hätte Sir Mark so etwas nicht getan. Einen besseren, friedfertigeren Menschen als ihn kann man sich kaum denken.“
„Was hat Weston denn gemacht?“
„Zweifelsohne etwas Schreckliches“, mischte sich ein Dritter ein. „Und ich habe gesehen, wie er Sir Mark ohne allen Grund angegriffen hat. Er scheint ein sehr wankelmütiger Charakter zu sein.“
So leicht ließ sich eine Reputation ruinieren. Ausgleichende Gerechtigkeit, dachte Mark und schüttelte seine Hand aus; den Schmerz begann er erst jetzt zu spüren. Doch das sollte ihn nicht aufhalten. Er hatte noch etwas zu erledigen.
„Rate mal, was ich für dich habe.“
Am Abend stand Mark wieder vor Jessicas Tür. Er hatte einen alten Hut mit breiter Krempe auf, der sein Gesicht vor neugierigen Blicken schützen sollte. Aus der Nähe konnte sie selbst in der Dämmerung sehen, wie rot und blau geschwollen seine Wange war.
Sie ließ ihn ein und schloss die Tür hinter ihm.
„Das zu raten ist nicht schwer“, meinte sie. „Es steht schon in der Zeitung.“ Sie hielt das Blatt des Anstoßes hoch, damit er die Schlagzeile lesen konnte.
Sir Mark prügelt sich mit Weston und erwirbt Sondererlaubnis.
„Sei froh“, setzte Jessica nach, „dass Parret nicht weiter über die Lizenz zum Heiraten einer Frau in der St. Paul’s-Kathedrale spekuliert hat. Das ist keine Selbstverständlichkeit.“
Mark grinste und nahm seinen Hut ab. „Nun, so viel zur Überraschung.“
„Findest du es nicht etwas voreilig, eine Lizenz zu erwerben?“
„Ich bin nie voreilig“, sagte er und grinste. „Bei mir kommt alles zur rechten Zeit.“ Er zog seinen langen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken.
Einst hatte sie von einem kleinen Haus irgendwo auf dem Land geträumt, wo sie in Frieden leben wollte und nur Amalie zur Gesellschaft hätte. Vielleicht hatte sie einfach nicht gewagt, sich mehr zu wünschen. Hoffnungen konnten bekanntlich enttäuscht werden, und das tat weh. Nun jedoch kam sie nicht dagegen an, sich mehr zu wünschen. Und sie wollte es auch nicht. Sie wollte hoffen. Eine Zukunft mit Mark schien mit einem Mal nicht nur vorstellbar, sie schien ihr zum Greifen nah. Eine gemeinsame Zukunft, eine Familie gar …
Als sie die Schlagzeile schon von Weitem gesehen hatte, kamen ihr als Erstes ihre Schwestern in den Sinn. Denn wenn sie mit Mark – dem Sir Mark – verheiratet wäre, könnte sie die beiden bestimmt wiedersehen? Oder sollten ihre Schwestern sie längst vergessen haben, galt sie ja offiziell als tot?
Sie wehrte sich heftig gegen diesen Gedanken. Gewiss hatte sie in Charlottes und Ellens Erinnerung weitergelebt. Oder? Vielleicht war es besser, nichts zu wünschen und nichts zu erwarten, dann blieb einem auch die Enttäuschung erspart.
„Komm“, sagte sie, nahm seine Hand, rückte einen Stuhl an den Waschtisch und hieß ihn sich setzen. Mark nahm Platz und sah sie mit leiser Verwunderung an. Jessica tauchte derweil ein Tuch in kaltes Wasser und legte es auf sein Gesicht.
„Ah“, seufzte er. „Das tut gut.“
Sie hatte Kräuter ins Wasser gegeben, die einen würzigen Duft verströmten. Mit einem Mal schien ihr alles unwirklich, wie ein Traum – als befände sie sich mit ihm auf einer Waldlichtung
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