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Geliebte Kurtisane

Geliebte Kurtisane

Titel: Geliebte Kurtisane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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unglücklich, ganz verloren in seinen Erinnerungen.
    „Ah“, sagte sie leise. „So war das also.“ Sie hatte seine düstere Geschichte unterbrechen, ihm ein Lächeln entlocken wollen. Sie glaubte, ihn nun besser zu verstehen. Doch als er sie ansah, war sein Blick der eines Getriebenen.
    „Nein“, erwiderte er ruhig, „das war noch nicht alles.“ Er wandte sich ab und ging weiter.
    Sie folgte ihm.
    „Sie hätte meinen Bruder Smite beinahe umgebracht. Es war keine Absicht. Nein, das glaube ich nicht. Aber sie war der Wirklichkeit so weit entrückt … Sie hatte Smite geprügelt und in den Keller gesperrt, den Schlüssel hatte sie versteckt und es dann einfach … vergessen. Ash war damals in Indien, und wir hatten Nachricht bekommen, dass er bald nach Hause käme. Als es mir endlich gelungen war, Smite zu befreien, machten wir uns zu Fuß auf den Weg nach Bristol, um dort auf Ash zu warten.“
    Er sah sie nicht an, aber als sie ihre Hand auf seinen Arm legte, schloss er seine Finger um die ihren.
    „Dreißig Meilen waren es nach Bristol, ganze drei Monate mussten wir auf Ash warten. Binnen eines Monats waren die paar Shilling, die wir bei uns hatten, aufgebraucht. Die beiden folgenden Monate haben wir auf der Straße gelebt. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, was es heißt, Hunger zu leiden. Wir waren nicht einfach nur hungrig, wir wären fast Hungers gestorben. Alles andere wird einem gleichgültig, alle Gedanken kreisen nur noch darum, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Gesetz und Anstand, gut oder böse, richtig oder falsch scheren einen nicht mehr. Die Welt erlischt, und nichts ist einem näher als man selbst und der stete Kampf darum, etwas – irgendetwas – im Bauch zu haben.“
    Nein, so tief war sie nie gesunken. Nicht einmal annähernd. Ihr blieb nichts weiter, als sich seine Geschichte mit leisem Entsetzen anzuhören.
    Mark schaute sie nicht an, als er fortfuhr. „So habe ich es zumindest empfunden. Smite hingegen … Er würde noch seinen letzten Bissen an eine streunende Katze verfüttert haben. Selbst in unseren dunkelsten Stunden dachte er an sich immer zuletzt. Mein Überlebenswille war viel stärker als seiner. Einmal, wir hatten in einer kleinen Gasse zwischen den Häusern Zuflucht gesucht, bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und sah eine Frau in der Dunkelheit an uns vorübergehen. Sie hatte mich nicht bemerkt. Am Ende der Gasse lag ein Haufen Abfall, verschimmelte Essensreste, die nicht einmal ich angerührt hätte, abgelegte Kleider, die so zerschlissen waren, dass sie kaum noch zusammenhielten. Die Frau legte ein Bündel dazu und ging dann rasch davon, ohne sich noch einmal umzusehen.“
    Jessica spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, wie ihre Hände zu zittern begannen. Sie wusste, was jetzt kam. Solche Geschichten waren in der Welt der Huren und Kurtisanen nur allzu zahlreich, und sie wüsste nicht, wie sich jemals etwas daran ändern sollte.
    „Ich ging hin“, sagte er. „Um zu schauen. Natürlich ging ich, getrieben von meinem Hunger. Doch in dem Bündel war ein Kind, ein Neugeborenes – ganz winzig und rot, wahrscheinlich erst ein paar Stunden alt.“
    Er hielt inne. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, und nur ein schwacher rötlicher Hauch lag noch über den Hügeln.
    „Selbst in all meinem Elend, meiner Verzweiflung, meinem Hunger wusste ich, was richtig gewesen wäre. Wir hätten etwas tun können. Und Smite hätte es gewiss auch getan.“ Seine Hand ballte sich zur Faust. „Ich wusste, was das Anständige gewesen wäre. Aber ich wusste auch, wenn ich das Kind jetzt mitnahm, würde mein Bruder es nicht verhungern lassen – eher würde er selbst Hungers sterben. Und so habe ich es liegen lassen und Smite nichts davon erzählt.“
    Er starrte mit leerem Blick in die Dämmerung.
    „In Anbetracht der Umstände durchaus verständlich. Wie alt waren Sie?“
    „Alt genug, um richtig von falsch zu unterscheiden.“
    „Vierzehn? Fünfzehn?“
    „Zehn.“
    Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. Zehn Jahre! Mit zehn Jahren mutterseelenallein und ausgehungert auf der Straße …
    „Am Nachmittag desselben Tages traf Ash endlich in Bristol ein. Ich bestand darauf, zurück in die Gasse zu gehen, um nach dem Kind zu sehen, aber da war es längst verschwunden.“
    „Sie waren zehn. Sie hatten nichts . Das Kind hätte zudem eine Amme gebraucht, keine zusammengeklaubten Reste.“
    Er erwiderte nichts.
    „Wahrscheinlich hat jemand anders es

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