Geliebte Kurtisane
gefunden und zum Findelhaus gebracht.“
„Das ändert nichts daran, dass ich es nicht getan habe. Jedes Mal, wenn ich seitdem in Versuchung war zu sündigen – und es waren unzählige Male, dass ich in Versuchung war –, habe ich mich dieses verlorenen, unerwünschten Bündels Mensch entsonnen. Jedes Mal musste ich an diese Frau denken, die ihr Neugeborenes in einer dunklen Gasse ausgesetzt hat, daran, wie verzweifelt und allein gelassen sie sich gefühlt haben muss. Und ich denke an den Mann, der all das zu verantworten hat und in ihrer Stunde der Not nicht bei ihr war. Niemals will ich ein solcher Mann sein.“
Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Arm. Nun griff sie nach seiner Hand, die sich lebendig um die ihre schloss.
„Verstehe“, sagte sie. Er hatte sich seinen Schlag zum Ritter wahrlich verdient, hätte ihn schon vor Jahren bekommen müssen.
Seine Hand schloss sich fester um die ihre. „Das meine ich, wenn ich sage, dass ich kein Heiliger bin.“
„Sie sind etwas weitaus Besseres, Sir Mark.“
Er verschränkte seine Finger mit den ihren, streckte die andere Hand nach ihr aus und fasste sie beim Ellenbogen, damit sie ihn ansehe. Im schwindenden Licht der Dämmerung konnte sie seine Miene kaum ausmachen. „Nein“, widersprach er.
„Doch“, beharrte sie.
„Nein, das meinte ich nicht. Ich wollte sagen, nach allem, was ich Ihnen erzählt habe, sollten Sie mich besser Mark nennen. Einfach nur Mark.“
„Sie werden niemals einfach nur Mark für mich sein“, erwiderte sie heftig. „Niemals. Sie sind …“
„Was? Nur weil ich zu der Erkenntnis gelangt bin, dass Keuschheit die Welt zu einem besseren Ort machen würde? Damit gebe ich nur kund, was wohl jede Frau längst und zur Genüge weiß. Sagen Sie mir nur eins, Mrs Farleigh: Wie würde Ihr Leben wohl heute aussehen, wenn Mr Farleigh die Regeln der Keuschheit eingehalten hätte?“
Es gab keinen Mr Farleigh. Es hatte nie einen gegeben. Aber es hatte einen Mann gegeben, vor langer Zeit …
Sie schloss die Augen. „Er hat mich verführt“, gestand sie schließlich. „Ich war jung, ich habe nicht die Folgen bedacht. Oder vielleicht ja doch, aber ich hielt mich für unverwundbar. Wenn man jung ist, glaubt man, nichts könne je schiefgehen. Schlimmes geschehe nur anderen … Leuten, die weniger klug, weniger schön sind, als … als ich es war. Man glaubt, die Regeln des Anstands wurden nur für dumme, vom Schicksal benachteiligte Mädchen gemacht.“
Sie schluckte. „Ich dachte, mir könne nichts passieren. Bis es dann zu spät war. Als er mich küsste, habe ich nicht einen Gedanken mehr an Keuschheit verschwendet oder daran, was richtig und was falsch war. Auch die Folgen waren vergessen oder welche Auswirkungen meine unbedachte Wahl für meine Eltern hätte oder für meine Schwestern. Ehe ich es mich versah, war ich so gründlich kompromittiert, dass mein Vater mich des Hauses verwies. Und schon war es passiert. Nun war ich das dumme Mädchen.“
Er drehte seine Hand in der ihren, liebkoste ihre Handfläche durch den Handschuh hindurch, strich über ihr Handgelenk. Dann zog er ihr langsam den Handschuh herunter, entblößte ihre Haut der kühlen Abendluft. Seiner Berührung.
„Ich bin seitdem meines Lebens nicht mehr froh geworden“, schloss sie.
„Wie alt waren Sie?“
„Vierzehn.“
Darauf erwiderte er nichts, zog sie wortlos an sich und nahm ihre Hand wie beim Tanz, bis sie dicht vor ihm stand.
Mit der freien Hand umfasste er ihr Kinn und hob es leicht an.
„Jessica“, sagte er ernst, „ich bin auf deiner Seite – wenn du es willst. Wenn ich schon den Ritter geben muss, dann will ich dein Ritter sein. Lass mich dein Beschützer sein.“
Seine Worte stürzten sie in Verwirrung. „Mein Beschützer ? Viel Ehre dürfte die Verbindung mit mir nicht einbringen.“
Statt einer Erwiderung küsste er sie. Kein kurzer, keuscher Kuss. Auch kein langer, liebevoller Kuss. Nein, es war reine, glühende Leidenschaft. Es war alles, was er bislang zurückgehalten hatte. Sein Körper drängte sich fest an den ihren, überließ nichts der Fantasie. Sein Mund vereinnahmte den ihren ohne jede Frage.
Sie schmolz dahin unter seiner Berührung, schwand dahin, als er mit den Händen ihr Gesicht umfing und sie noch näher an sich zog. Keuschheit war das nicht, wohl eher der Auftakt zu Sünde und Skandal. Warum nur? Und warum sie? Sie konnte es nicht verstehen. Nicht nach allem, was er ihr erzählt hatte.
„Zum Teufel mit der Ehre“,
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