Geliebte Kurtisane
Und das war nur die erste Ausgabe, vier weitere sollten folgen. In ein oder zwei Wochen würde sie ihre ausstehenden Einkünfte von Nigel Parret bekommen und könnte London endlich verlassen. Was sie danach tun wollte, wusste sie bislang nicht.
Etwas galt es noch zu erledigen, ehe sie der Stadt endgültig den Rücken kehren würde. Sie betrat den Schankraum, von dem aus sie Sir Mark das erste Mal gesehen hatte – wie lang ihr das nun her schien! Das anstehende Treffen hatte sie so lang wie irgend möglich vor sich hergeschoben. Aber es war an der Zeit, George Weston zu sagen, was sie ihm vor Monaten schon hätte sagen sollen. Sie wollte ihm sagen, dass er sich zum Teufel scheren solle.
Er saß an einem Tisch im hinteren Teil des Raums und wartete auf sie. Nein, er war durchaus nicht unerfreulich anzusehen – braune Haare, braune Augen, unauffällige Nase, annehmbarer Mund. Und doch schauderte ihr, als sie ihre Röcke zusammenraffte und ihm gegenüber Platz nahm. Jeder Zoll ihrer Haut erinnerte sich, was er ihr angetan hatte. Ihr Körper würde nie vergessen. Ihr wurde gar ein wenig übel. Seine bloße Anwesenheit war wie ein Hieb in die Magengrube.
Nicht dass er sie jemals geschlagen hätte. Würde jemand sie gefragt haben, hätte sie gesagt, dass er kein schlechter Mann sei. Er war gottesfürchtig und ging regelmäßig zur Kirche. Als er noch ihr Gönner war, hatte er sie gar … doch nein, gütig konnte sie ihn gerade nicht nennen. Weit gefehlt. Aber zumindest war er ihr gegenüber nie tätlich geworden. Ja, sie hätte gesagt, dass er durchaus ein anständiger Mensch sei.
Dann aber hatte er eine Belohnung darauf ausgesetzt, Marks Reputation zu ruinieren. Ganz zu schweigen von dem, was er ihr ein paar Monate zuvor angetan hatte. Nein, er war wirklich nicht völlig charakterlos. Aber sie könnte ihm trotzdem nie verzeihen – zumal sie jetzt wusste, was ein wirklich guter Mann war. Das rief ihr noch einmal ins Bewusstsein, welches Elend er ihr bereitet hatte. Seit sie das Treffen mit ihm vereinbart hatte, wappnete sie sich für diese neuerliche, hoffentlich letzte Begegnung.
Er lächelte, als sie sich setzte. „Glückwunsch, Jess. Ich wusste, dass du es schaffst. Wie immer brauchte es nur ein wenig der Ermunterung meinerseits.“
Schon wieder – Jess. Mark hatte sie Jessica genannt. Er hatte sie wie eine vollwertige Person behandelt, sie nicht auf eine derb-vertrauliche Kurzform reduziert. „Du bist ein bisschen voreilig, meinst du nicht? Noch habe ich dir nicht Bericht erstattet.“
„Nun, den Rest kann ich mir denken.“ Sein Lächeln wurde zu einem breiten, selbstgefälligen Grinsen. „Heute erschien die erste Folge des Berichts einer ‚gefallenen Frau‘ im London’s Social Mirror . Die Nachmittagsausgaben aller anderen Blätter haben die Nachricht über die Verführung von Sir Mark sofort übernommen. Ich bin kein Idiot, Jess. Glückwunsch, gut gemacht. Die gesamte Stadt redet schon davon. Und die Sache in Fortsetzungen zu bringen? Brillante Idee. Daran wird man sich noch Jahre später erinnern. Wenn Lefevre sich zur Ruhe setzt, werde ich seinen Posten übernehmen.“
Jessica spürte Marks Ring, den sie wieder an der Kette um den Hals trug. Was würde Weston erst sagen, wenn sie ihm den Ring zeigte? „Ich muss gestehen, dass ich deinen Ehrgeiz nicht so ganz verstehe. Du hast auf mich nie den Eindruck gemacht, als würden die Belange der Armen dich interessieren.“
Er tat es mit einem Achselzucken ab. „Soll ich die Armenhäuser der Konkurrenz überlassen? Die Kommission befindet darüber, wer die Aufträge für die Lieferung von Speisen, Bettdecken und so weiter bekommt. Sie beschließt, was in den Arbeitshäusern produziert wird und wem es zugutekommt. Wer darüber entscheiden kann, verfügt über eine Macht, die ihm langfristig nur Vergünstigungen einbringen kann. Zudem scheint es mir ein Sprungbrett zu anderen, höheren Berufungen zu sein.“
Jessica verzog spöttisch die Lippen, doch Weston merkte es nicht.
„Wozu diese Gelegenheit an Sir Mark verschwenden?“, fuhr er fort. „Er interessiert sich nicht für Politik und Geschäfte, nur für philosophische und moralische Fragen.“ Nun war es Weston, der spöttisch lächelte. „Du hast also nicht nur mir einen Gefallen getan, sondern ganz England.“
Jessica schüttelte den Kopf. „Du scheinst dir deiner Sache sehr sicher. Eigentlich bin ich gekommen …“
Er lächelte nachsichtig. „Ich weiß, warum du gekommen bist. Hier.“
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