Geliebte Myriam, geliebte Lydia
das Zimmer genau gegenüber.
Aber es war merkwürdig: kaum hatten wir die Tür zu ihrem Zimmer hinter uns zugemacht, als der ganze Übermut, dieser ganze übertriebene Frohsinn, von uns abfiel wie ... na, sagen wir, wie die welken Blätter von den herbstlichen Bäumen, wenn ein kräftiger Windstoß in sie hineinfährt; und zwar fiel er von beiden gleichermaßen ab. Wir standen uns plötzlich gegenüber wie begossene Pudel und schauten uns gegenseitig schmunzelnd, aber mit deutlich spürbarer Verlegenheit an. Und dann murmelte ich: 'Hörst du, Lydia, ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel!' Und sie erwiderte, ebenfalls mit auffallend leiser Stimme: 'Ja, was sollte ich dir denn übel nehmen?'
'Na, das mit den Knien halt!'
'Daß du meine Knie geküßt hast?'
'Mhm.'
'O ja, das nehm' ich dir schon übel. Und weißt du, warum?' Und als ich darauf nichts sagte, fuhr sie fort: 'Weil du nur meine Knie geküßt hast, nicht aber meine Lippen! Tut sowas ein wohlerzogener Reiseleiter?'
Jetzt schnappte ich erst einmal nach Luft und schaute sie eine Zeitlang mit großen Augen an. Aber dann kapierte ich den Sinn ihrer Worte und ließ sie mir nicht zweimal sagen: ich faßte sie mit beiden Händen an den Schultern und drückte ihr kurz entschlossen einen leider viel zu schüchtern ausgefallenen Kuß auf die Lippen. Dann ließ ich sie gleich wieder los.
'Mm!' machte sie genießerisch. Aber ... ist das alles? Wieviele Küsse hast du auf meine Knie gedrückt, hm?'
'Zwei', antwortete ich wahrheitsgetreu.
'Na siehst du? Also mußt du mir auf die Lippen auch zwei drücken, wenn ich nicht mehr böse sein soll!'
Ich schaute sie einen Augenblick lang ungläubig an. Dann faßte ich sie noch einmal an beiden Schultern und küßte sie nun schon etwas weniger schüchtern.
'Mm!' machte sie wieder. 'Deine Küsse sind aber toll! Schade, daß ihre Zahl schon voll ist!'
'Ja, wenn das so ist', erwiderte ich lachend, 'bleibt nur eins übrig: du gibst mir die zwei Küsse zurück!'
'Ah, du bist mir ein Schlaumeier!' kicherte sie. 'Ja, aber ich geb' zu: das wär' eine Möglichkeit.' Und sie fixierte mich eine Zeitlang, und sobald sie mit dem Kichern fertig war, faßte sie mich mit ihren Händen an den Wangen und drückte mir einen zwar kurzen, aber unglaublich süßen Kuß auf die Lippen. Dann ließ sie mich sofort wieder los und trat einen Schritt zurück. Sobald ich mich von dem überwältigenden Gefühl, das mit ihrem Kuß verbunden war, halbwegs erholt hatte, sagte ich: 'Herrlich! Aber wo bleibt der zweite?' Und daraufhin trat sie, ohne eine Wort zu sagen, wieder an mich heran, legte ihre Arme um meinen Hals, und das allein war schon ein Hochgenuß, und drückte mir wirklich einen zweiten Kuß auf die Lippen und entzog mir ihre Lippen nicht gleich wieder, so daß ich auch meine Arme um ihren Leib schlang und diesen an mich preßte; und das war fast so süß wie der Kuß selber, und außerdem spürte ich ganz deutlich, wie sie schwer atmete.
Ich könnte unmöglich sagen, wie lang wir so eng umschlungen standen und uns küßten. Vielleicht war's nur eine halbe Minute, aber mir kam's vor wie eine halbe Stunde, nein, wie eine halbe Ewigkeit. Aber schließlich löste sie sich wieder von mir, schaute mir noch einen Augenblick schmunzelnd in die Augen und wurde dann mit einemmal hektisch. Sie stürzte sich auf ihre Reisetasche und holte aus dieser ihre Weinflasche heraus; dann machte sie sich über Babsis Tasche her, fand in ihr aber keinen Wein, durchsuchte hierauf das ganze Zimmer, und als sie nirgends eine zweite Flasche fand, sagte sie: 'Naja, fürs erste reicht ja die hier, und wenn die aus ist und einer noch einen Durst hat, dann schicken wir eben die Babsi selber! Genehmigt?' Und damit stürmte sie, ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, aus dem Zimmer, komplimentierte mich charmant hinaus und sperrte ab. Ich hielt ihr dafür die Tür zu unserem Zimmer auf. Und wie sah es in unserem Zimmer aus? Unverändert? O nein! Der Götzi saß jetzt auf meinem Platz, also neben der Babsi, und machte ein Gesicht, als ob wir ihn bei irgendeiner unerlaubten Tätigkeit ertappt hätten; und die Lydia, die ja vor mir eingetreten war, verriet mir nachher sogar, daß er zuerst zurückzuckte und sie dann mit einer Unschuldsmiene anschaute, daß sie sofort in einen sagenhaften Lachkrampf ausbrach; und damit war's klarerweise um uns alle geschehen, und es herrschte wieder dieselbe Fröhlichkeit wie zuvor. Da der Götzi aber keine Anstalten machte, den Platz
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