Geliebte Myriam, geliebte Lydia
es gleich verstehen, Habíbi. Ich vermute, in Europa gibt es das nicht. Ich will es dir daher von allem Anfang an erzählen und nichts weglassen, damit du mich besser verstehen kannst, und auch, weil es mir so leichter fällt zu erzählen.'
Sie verstummte, setzte sich auf, schlang wieder die Arme um ihre Knie und begann nach einiger Zeit von neuem, wenn auch flüsternd und stockend: 'Es war der schlimmste Schock meines ganzen Lebens - weit schlimmer als all das, was ich in den letzten Tagen erleben mußte. Ich war damals sieben oder acht Jahre alt. Es war Abend, und ich war gerade erst schlafen gegangen und lag friedlich in meinem Bett und genoß die Zeit des Alleinseins; mein Bruder ging ja immer erst viel später schlafen - weil er viel älter war, und weil er eben ein Junge war. Ich lag also friedlich in meinem warmen Bett und befand mich in jenem wohligen Zwischenstadium zwischen Wachen und Schlafen - da schreckte ich auf einmal unsanft hoch: ich spürte irgendeine Bewegung unter meiner Decke, und es kam mir vor, als ob sich eine riesige Hand, kalt und grob, auf meinen Körper legte und ihn suchend abtastete. Und fast im selben Augenblick legte sich eine andere Hand, ebenso riesig, ebenso kalt und ebenso grob wie die erste, über meinen Mund und hinderte mich am Schreien. Und dann spürte ich, wie meine Bettdecke zurückgeschlagen wurde und wie mir mein Nachthemd über den Kopf gezogen wurde; dann wurde ich von den unheimlichen Händen aufgehoben und aus dem Zimmer getragen. Ich erkannte, daß ich ins Bad getragen wurde, konnte aber nichts sehen; vielleicht war ich so betäubt, vielleicht hatte man mir aber auch die Augen verbunden - ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich furchtbare Angst hatte, daß viele um mich herum waren und daß meine Hände, Arme und Beine in einem eisernen Griff steckten, der jeglichen Widerstand und jegliche Bewegung unmöglich machte. Dann wurde ich auf den Boden gelegt und spürte unter meinem nackten Körper die eiskalten Fliesen des Bades. Zur Vielzahl der unheimlichen Geräusche und der unbekannten Stimmen gesellte sich dann ein noch unheimlicheres Geräusch, nämlich von einem metallischen Schaben, und es hörte sich genauso an, wie wenn ein Messer gewetzt wird. Mir erstarrte das Blut in den Adern - gewiß waren Diebe oder Räuber in unser Haus eingedrungen und hatten mich aus meinem Bett geraubt und waren nun dabei, mir die Kehle durchzuschneiden. Genauso erging es unartigen Mädchen wie mir stets in den Geschichten, die meine Großmutter so gern erzählte.
Und dann hörte das metallische Schaben mit einemmal auf, und da war mir, als bliebe mir auch das Herz stehen, und irgendwie muß ich auch aufgehört haben zu atmen. Ich konnte zwar nichts sehen, aber in meiner Vorstellung kam das Ding, von dem das schabende Geräusch ausgegangen war, immer näher; und wie es sich herausstellte, kam es auch wirklich näher, jedoch nicht, wie ich erwartet hatte, an meine Kehle, sondern an einen ganz anderen Teil meines Körpers, nämlich an eine Stelle tief am Unterleib, wie auf der Suche nach etwas, was zwischen den Schenkeln verborgen liegt. In diesem Moment wurde mir erst bewußt, daß man mir die Schenkel weit auseinandergezogen hatte, daß mir Finger wie aus Stahl beide Beine gepackt hielten und sie, ohne nachzulassen, so weit wie möglich spreizten. Ich glaubte schon zu spüren, wie das gewetzte Messer direkt auf meine Kehle niederstieß - aber dann fuhr es mir plötzlich zwischen die Schenkel und schnitt mir dort ein Stück Fleisch aus dem Körper - jawohl: schnitt mir ein Stück Fleisch aus dem Körper. Trotz der Riesenhand, die schwer auf meinem Mund lag, schrie ich vor Schmerz auf. Das war nämlich kein gewöhnlicher Schmerz, sondern eine sengende Flamme, die mir durch den ganzen Körper schoß. Und dann konnte ich plötzlich wieder sehen, schaute an mir hinab und erkannte zu meinem unbeschreiblichen Schrecken, daß ich inmitten einer Blutlache lag. Was man mir vom Körper geschnitten hatte, wußte ich nicht und wollte es auch nicht wissen. Ich schrie nur und rief nach meiner Mutter um Hilfe. Aber den allerschlimmsten Schock erlitt ich, als ich mich umschaute und sie, meine Mutter, leibhaftig neben mir stehen sah. Ja, sie war es, in voller Lebensgröße - es konnte keinen Zweifel geben! Mitten zwischen diesen fremden Frauen stand sie, redete mit ihnen und lächelte ihnen zu, als ob sie nicht eben erst an der Abschlachtung ihrer eigenen Tochter teilgenommen hätte! Und meine
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