Geliebte Rebellin
der männlichen Natur besser kennengelernt als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Ihre Sicht der Männer war so pragmatisch, dass es schon an Zynismus grenzte. Es wäre ganz natürlich gewesen, wenn sie nur das Schlechteste angenommen und Miss Post alles aufs Wort geglaubt hätte. Und doch hatte sie der Lüge keinen Moment lang Glauben geschenkt.
Baxter freute sich über diesen Gedanken, denn aus Gründen, die er nicht genauer untersuchen wollte, war das Wissen, dass Charlotte trotz derart vernichtender Indizien an ihn geglaubt hatte, von enormer Wichtigkeit für ihn. Gewiss hatte sie einen Funken echter Zuneigung zu ihm gefasst, der über das bloße Streben nach leidenschaftlichen Experimenten weit hinausging.
Eine Kutsche hielt in dem Moment rumpelnd vor der Spielhölle an, als Baxter die Stufen erreicht hatte. Lautes Gelächter und derbe Witze schallten aus den Fenstern. Die Tür des Fahrzeugs wurde aufgerissen, und fünf betrunkene junge Dandys wankten auf die Straße. Einer von ihnen verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Seine Freunde fanden seine missliche Lage zum Schreien komisch.
Baxter wich in den Schatten zurück und wartete, bis die Neuankömmlinge sich wieder gefasst und den Kutscher bezahlt hatten. Als sie sich umdrehten und die Stufen hinauf taumelten, hielt er sich dicht hinter ihnen, und sie merkten nicht, dass er mit ihnen den Club betrat.
Das schummerige Innere des Lokals war in den Schein des Kaminfeuers getaucht, und es herrschte dichtes Gedränge. Ohne seine Brille sah Baxter alles verschwommen, was allerdings bei der rauchigen Luft kein Wunder war. Baxter brauchte seine Brille nicht, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass ihn in diesem Getümmel wohl kaum jemand beobachten würde. An Londoner Maßstäben gemessen, war es noch früh, doch an den mit grünem Flanell bezogenen Tischen hatten sich die Männer schon längst auf Spiele um hohe Summen eingelassen. Niemand schenkte Baxter auch nur die geringste Beachtung.
Ein tosendes Feuer in dem breiten Kamin tauchte das Geschehen in einen glutroten Höllenschein. Die Luft war heiß und roch nach Bier, Schweiß und Rauch.
Baxter fand Schutz hinter einer steinernen Statue in Gestalt einer üppig ausgestatteten nackten Frau. Er zog seine Taschenuhr heraus und hielt sie dicht vor sein Gesicht, als wollte er die Zeiger ablesen. Durch das optische Glas betrachtete er die Menschen. Die Gesichter der Stammgäste dieser Spielhölle nahmen abrupt scharfe Konturen an.
Von Hamilton oder Norris war nirgends etwas zu sehen.
Baxter wollte den Deckel der Uhr gerade stirnrunzelnd wieder zuschnappen lassen, als er erkannte, dass sich auf der Treppe am hinteren Ende des Saals etwas bewegte. Er zögerte, hob das Glas wieder an sein Auge und warf einen schnellen Blick hindurch.
Etliche junge Männer, darunter auch Hamilton und Norris, waren auf dem Weg in eines der oberen Stockwerke. Baxter fragte sich, ob es oben private Räume gab, in denen man speisen und sich in Ruhe unterhalten konnte, oder ob der neue Besitzer des Gebäudes sich entschlossen hatte, in einer diskreteren Form weiterhin die Dienste eines Bordellbetriebs anzubieten.
Dann fiel ihm wieder ein, was Hamilton gesagt hatte: Die Geschäftsleitung stellte für die Mitglieder seines exklusiven Clubs spezielle Räumlichkeiten zur Verfügung.
Baxter ließ den Uhrdeckel zuschnappen und steckte die Uhr wieder ein. Er brauchte das Lorgnon nicht, um sich einen Weg durch den Raum zu bahnen.
Als er näher kam, sah er jedoch eine große verschwommene Gestalt an dem Treppengeländer lehnen.
Inmitten des Getümmels holte Baxter seine Uhr noch einmal heraus und riskierte einen schnellen Blick. Mehr war auch nicht nötig, denn das grobe Gesicht des kräftig gebauten Mannes auf der Treppe sagte alles. Er hatte es mit einem Wächter zu tun. Der Mann war offensichtlich zum Schutz der Mitglieder des elitären Clubs dort postiert worden. Nur ihnen stand das Privileg zu, an den Vergnügungen teilzuhaben, die die oberen Stockwerke bargen.
Neugier und eine böse Vorahnung brachen zu gleichen Teilen über ihn herein. Das Spielzimmer im Parterre des Grünen Tischs war schon übel genug. An einem Ort wie diesem konnte ein leichtfertiger junger Mann innerhalb einer einzigen Nacht eine ganze Menge verlieren. Was auch immer sich in den oberen Etagen abspielen mochte, es war aller Wahrscheinlichkeit nach noch viel unerfreulicher.
Auf was für einen teuflischen Blödsinn hatte sich Hamilton bloß eingelassen?
Weitere Kostenlose Bücher