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Geliebter Boss

Geliebter Boss

Titel: Geliebter Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Hanns Roesler
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paar Minuten hier stehenbleiben, dann wird sie davonlaufen, so schnell sie kann, hinaus aus diesem verwirrenden Traum.
    Aber sie kann sich nicht trennen von dem Blick über diese Stadt, von dem Luxus, der sie umgibt, von dem Palast-Hotel, wie sie noch keines gesehen hat, von dem großen Strauß roter Gladiolen, sie kann nicht umhin, sie zupft eine der Beeren von der Weintraube und steckt sie in den Mund, sie nimmt einen großen Pfirsich, den ihre Hand kaum umschließt, und atmet seinen süßen Duft ein — da steht sie nun, hilflos und glücklich, trotzdem sie gar nicht glücklich sein dürfte, ein Mädchen mit 700 Mark Salär im Monat, ein Mädchen mit einer Straßenbahnnetzkarte, mit einem Mittagstischabonnement, zweimal in der Woche Schinkennudeln, ein Mädchen in einem einfachen Kleid und einer Handtasche aus dem letzten Winterausverkauf, mit Schuhen von gestern, die Schuhe sind immer noch das eleganteste an ihr, sie ist direkt froh in diesem Moment, daß sie damals, als sie die Schuhe kaufte, leichtsinnig gewesen war und nicht auf das Geld geschaut hatte.
    Sie setzt den Schmuckkoffer mit den schweren Steinen auf einen Stuhl, streicht mit ihren Fingern zärtlich über die kostbaren Vorhänge an den Fenstern, betrachtet die bunten Kupferstiche an den Wänden, mehr Lichtflecke als reale Darstellung, der Aufriß einer Burg, die nie gebaut wurde, die Bauskizze eines Phantasten, der kein Baumeister folgte, kein Burgenbauer, so gewaltig in ihrer Anlage ist diese Burg aus nie dagewesenen Jahrhunderten.
    Ob sie wohl damals schon mit Ziegeln gebaut haben, wie sie jetzt in ihren Koffern sind? Eine verrückte Idee, Ziegelsteine in einen Koffer zu legen, damit er schwer wird — nein, sie kann nicht länger mit diesem Verrückten zusammen leben, in ihr haben sich schon alle Begriffe verschoben, sie muß wieder auf die Erde zurück, sie gehört nicht hierher, nicht in dieses Hotel, nicht in diesen Luxus, am wenigsten zu ihm, einem Verbrecher. Sie muß sofort von ihm weg, ehe es zu spät ist. Aber er hat unten ihren Paß dem Portier übergeben, sie ist ohne jeden Ausweis, ohne jeden Namen — aber nein, das ist nicht wahr, der Portier hat ja ihren Namen, er steht im Paß! Wenn man sie verfolgt, wenn man die Unterschlagung des Geldes entdeckt hat, wenn ihr Name in der Mittagszeitung steht — sie muß sofort hinunter und ihren Paß zurückbekommen, ehe es zu spät ist, es kann in der nächsten Minute zu spät sein. Wenn es jetzt an der Tür klopft... Es klopft an der Tür.
    Aber es ist nur das Zimmermädchen, das auf die Koffer deutet und fragt, ob es beim Auspacken behilflich sein darf.
    »Nein!« sagt Birke erschrocken. »Nein. Nein.«
    Das Zimmermädchen macht einen Knicks und zieht sich zurück. Was es wohl gesagt hätte, wenn es statt der Kleider und Schuhe und Wäsche nur in Zeitungspapier gepackte Ziegelsteine gefunden hätte? Sie muß hier heraus, weg von den Koffern!
    Es ist gerade noch einmal gutgegangen, aber das nächstemal wird es nicht mehr gutgehen. Sicher hat das Hotel auch Hintertreppen für das Personal und einen Hinterausgang — aber sie braucht den Paß, und der Paß liegt vorn beim Portier. Ohne Paß kommt sie nicht über die Grenze zurück. Aber mit Paß auch nicht, denn überall wird bereits ihr Steckbrief liegen.
    Und draußen liegen der Stephansdom und der Kahlenberg und der Wienerwald und die Dächer Wiens. Und in jedem Haus wohnen Menschen, nur sie hat keinen, der ihr helfen kann, keinen einzigen. Sie ist so verlassen in dieser fremden Stadt wie noch nie in ihrem Leben.
    Das Telefon läutet.
    Sie erschrickt. Sie geht nicht hin.
    Das Telefon läutet weiter.
    Sie hebt den Hörer ab.
    »Ja?« sagt sie nur.
    »Ich wollte mich nach deinem Wohlbefinden erkundigen.«
    Es ist der Verrückte, der Verbrecher!
    Sie antwortet nicht.
    »Hallo! Birgit! Bist du am Telefon?«
    Sie legt den Hörer auf. Geht ins Bad. Läßt Wasser in das Waschbecken einlaufen. Ganz mechanisch tut sie es. In der Seifenschale, noch verpackt, ein neues Stück Seife. Sie riecht den süßen Lavendelduft durch das Papier hindurch.
    Wieder läutet das Telefon.
    Diesmal geht sie ganz schnell zum Apparat.
    »Der Portier hat meinen Paß!« ruft sie aufgeregt. »Er weiß jetzt, wer ich bin.«
    »Mach dir keine Sorgen!«
    »Ich will hier heraus!«
    »Kann ich zu dir hinüberkommen?«
    »Nein.«
    »Gut. Ich komme.«
    Birke läuft zur Tür. Will abriegeln. Sich einsperren.
    Dann unterläßt sie es.
    Wozu? Was hat das alles für einen Sinn?
    Sie

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