Geliebter Boss
geht ins Bad zurück und dreht den Wasserhahn zu. Legt den Hebel des Waschbeckens herum, damit das Wasser wieder abfließt. Sie blickt in den Spiegel. Ein fremdes Gesicht starrt ihr entgegen. Das bin ich? Das bin ich doch nicht! Sie hat nicht einmal einen Kamm, um ihr Haar zu ordnen. Doch, drüben in ihrer Handtasche befindet sich ein Kamm. Sie geht hinüber, ihn zu holen. Als sie ins Zimmer tritt, bleibt sie erschrocken stehen.
Ein fremder Mann steht am Fenster.
Er trägt einen silbergrauen hellen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und ist glattrasiert. Er steht mit dem Rücken zu ihr und blickt hinaus.
Als er sich umwendet...
»Sie?« fragt Birke erschrocken.
Es ist der Boß.
Sie traut ihren Augen nicht.
Er lacht sie an und sagt:
»Sie haben mir den Koffer aufgehoben, während ich in Linz meine Strafe absaß. Alle meine Anzüge hingen bereits im Schrank.«
Birke ist noch nie einem Mann begegnet, der so aussieht. So blendend aussieht, so überzeugend. Sogar sein Gesicht ist völlig verändert, ohne Bart. Sein Haar ist zurückgebürstet, die Bügelfalten seiner Hose messerscharf. Das fällt ihr besonders auf. Die alten Blue jeans, das offene Hemd, das war sie an ihm gewöhnt, das paßte zu seiner Art, wie er ihr begegnet war und sie zwang, mitzutun — aber dieses weiße Hemd, die gutgebundene Krawatte, die goldenen Manschettenknöpfe, die Schuhe aus dünnem, feinem Leder — sie muß ihn immer wieder anstarren und erst schlucken, um überhaupt reden zu können.
»Was wollen Sie hier?« fragt sie heiser.
»Macht der Anzug so viel aus, daß du wieder Sie zu mir sagst?« fragt er belustigt.
Er geht mit offenen Armen auf sie zu.
Sie weicht zurück.
»Nein!« sagt sie und hebt ihre Hände wie zum Schutz.
Dabei würde sie, wenn er sie jetzt in seine Arme nähme — tausendmal würde sie jetzt ja sagen, tausendmal in dieser Minute. Prinz aus dem Märchen! Der Froschkönig, wie er im Buch steht. Da steht plötzlich ein Mann vor ihr, und sie sieht, daß er eine Krone auf dem Kopf trägt! Aber der Mann mit der Krone küßt sie nicht. Sie läßt die Hände vom Gesicht sinken. Er küßt sie trotzdem nicht. Er sagt sehr sachlich:
»Hier ist Ihr Paß zurück.«
Sie nimmt verwirrt den Paß, den er aus seiner Rocktasche zieht.
»Ich habe Sie im Hotel als meine Sekretärin eingetragen.«
»Unter meinem Namen?«
»Nein. Nur als meine Sekretärin. Peter Saussen mit Sekretärin. Sekretärinnen haben keinen Namen.«
Noch immer ist Heiserkeit in ihrer Stimme, als sie sagt:
»Ich bin froh, daß Sie wieder Sie zu mir sagen.«
»Unter den gegebenen Umständen.«
»Unter welchen Umständen?«
»Chef und Sekretärin. Sie können Boß zu mir sagen.«
Jetzt hat sie sich wieder in der Gewalt.
»Boß!« sagt sie.
»Und wie sage ich?«
»Fräulein Schulz.«
»Da gefällt mir Birgit schon besser. Trotzdem ich den Namen abscheulich finde. Wie hat Sie Ihre Mutter genannt?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Zum Vergnügen!«
»Birke«, sagt sie.
»Birke? Wie Wäldchen?«
»Birke wie Wäldchen!«
»Beides fängt mit B an. Boß und Birke. Warum haben Sie mir nicht früher gesagt, daß Sie Birke heißen?«
»Sie haben nicht danach gefragt.«
»Es wäre alles anders gekommen.«
»Was hätte das an unserer Situation geändert?«
»Das verstehen Sie nicht«, sagt Zanders. »Wo ich geboren bin, da hatten wir ein Birkenwäldchen beim Haus. Als Junge habe ich dort die ersten Maikäfer von den Bäumen geschüttelt. Wissen Sie, was ein Müller unter den Maikäfern ist? Das ist ein Maikäfer mit einem weißbetupften Kopfschild. Die mit dem braunen Kopfschild sind die Bäcker und die mit dem schwarzen sind die Schuster. Die seltenen, die mit dem roten Kopfschild, sind die Könige!«
»Alles nur Männer?«
»Die weiblichen Maikäfer sind kleiner und für einen Jungen von neun Jahren ohne Reiz. Man sammelt Männchen.«
»Daher Ihre Beziehung zu Birken?«
»Die haben nie aufgehört. Zu Fronleichnam hatten wir Birken vor den Türen stehen, mit dem Fuß in einer leeren Kompottbüchse, und später, im Gefängnis, habe ich aus Birkenreisern Körbe geflochten.«
»Sie werden wieder welche flechten und ich mit Ihnen, wenn wir nicht sofort hier verschwinden!«
»Das können wir nicht — Birke.«
Sie hält den Paß noch immer in ihren Händen.
»Geben Sie mir das Fahrgeld nach Hause!« sagt sie nach kurzem Nachdenken.
»Erst, wenn meine Mission als Ihr Boß beendet ist.«
»In welcher Mission ist mein Boß
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