Geliebter Feind
Freundschaft hat nichts damit zu tun.“
„Wie Sie meinen. Wir wollen nur, was uns zusteht. Wer es bezahlt, ist uns gleich. Und vergessen Sie nicht, wir gehen davon aus, dass wir unser Geld bald zurückhaben. Unsere Geduld wird nicht viel länger halten. Auf Wiedersehen, Mrs. Carmichael.“
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen beobachtete sie durch ihr Fenster, wie der Mann in den Wagen auf dem Firmenparkplatz stieg. Die zwei düsteren Kerle, die ihr neulich entgegengekommen waren und von denen Drew behauptet hatte, es seien neue Kunden gewesen, warteten im Wagen auf ihn. Sorgenvoll sah sie dem davonfahrenden Wagen nach, dann ging sie geradewegs zu Drews Büro hinüber und erzählte von dem Vorfall. Wie Don Bailey vorausgesagt hatte, war Drew außer sich.
„Mit wem er geredet hat, ist doch gleich. Stimmt es, dass du diesen grässlichen Leuten hundertzwanzigtausend Pfund schuldest?“
Das wütende Rot wich aus seinen Wangen, machte einem aschfahlen Grau Platz. Schwer ließ Drew sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. „Ja, es stimmt.“
Die Geschichte, die ihr Bruder ihr erzählte, ließ Abbey erblassen. Zuerst hatte er zusammen mit einem Freund ein Casino besucht und war schließlich an einem Tisch gelandet, an dem auch Don Bailey gesessen hatte, einer von den „Schwergewichten“, wie Drew es nannte. An jenem ersten Abend hatte er gewonnen und es danach immer schwieriger gefunden, dem Spieltisch fernzubleiben.
„Dann kannst du jetzt auch alles erfahren“, fuhr Drew fort. „Ich habe Tausende von Pfund aus dem Geschäft abgezweigt. Und verloren. Ich habe unser Haus mit einer Hypothek belegt. Und das Geld verloren. Seit letztem Winter schon stottere ich Spielschulden ab. Aber seitdem habe ich kein Casino mehr betreten, gehe stattdessen regelmäßig zu den Sitzungen der Anonymen Spieler. Leider bin ich zu spät wieder zu Verstand gekommen, bevor ich damit aufhörte, uns alle in den Ruin zu ziehen.“
Abbey war zutiefst erschüttert. Ihr großer Bruder, den sie liebte und dem sie vertraute, hatte riesige Summen aus der Firma und aus der Sicherheit seiner Familie abgezogen, um seine Spielsucht zu finanzieren. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich nicht mehr um die finanzielle Seite der Firma gekümmert hatte. Dann wäre es ihr früher aufgefallen, und vielleicht hätte sie ihm bei seinem Kampf gegen die Sucht helfen können. Bevor die Dinge so völlig außer Kontrolle geraten waren. „Weiß Caroline davon?“
„Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es ihr zu sagen. Hat sie nicht schon genug durchgemacht, ohne dass ich ihr Leben und das der Kinder zerstöre? Ich habe alles verschleudert, was ihnen wichtig ist.“ Drew holte tief Luft. „Mit den Hypothekenraten bin ich auch in Verzug.“
Verzweifelt suchte Abbey nach einem Ausweg. Wie konnte sie Geld besorgen? Sie zahlte selbst eine Hypothek für ihre Wohnung, und in der aktuellen wirtschaftlichen Situation waren Kreditzinsen hoch, während Immobilienpreise sanken. Es war also keine gute Idee, eine zweite Hypothek aufzunehmen, um an etwas Bargeld heranzukommen. „Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun könnte …“
„Du kannst nichts tun. Ich habe unser aller Leben ruiniert.“
„Du musst es Caroline sagen. Sie wird es so oder so herausfinden. Es wäre besser, wenn sie es von dir erfährt.“ Sie merkte, wie ihr Bruder ihrem Blick auswich. „Das mit der Hypothek weiß sie doch schon, oder?“
Drew ließ den Kopf hängen. „Ich habe ihre Unterschrift auf dem Antrag gefälscht“, murmelte er.
Abbey schwieg. Sie war jenseits des Punkts, wo sie noch wütend werden konnte, dazu sorgte sie sich viel zu sehr um die Konsequenzen, die Drews Veruntreuung für die Firma haben könnte. Tief in Gedanken versunken kehrte sie in ihr Büro zurück und nahm sich die Bücher vor. Nach einer Weile erkannte sie das Muster von Drews nicht autorisierten Barabhebungen. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin. Caroline würde völlig aufgelöst sein. Was, wenn die Firma bankrottging?
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sich ja mit Nikolai für die Hausbesichtigung treffen sollte, und machte sich eilig auf den Weg.
Nikolai merkte sofort, dass etwas mit Abbey nicht stimmte. Ihr Blick war seltsam trübe, auch fehlte ihr die ihr eigene würdevolle Haltung. Er war noch immer verstimmt. Frauen zeigten normalerweise mehr Begeisterung in seiner Nähe, er hatte gelernt, es als selbstverständlich anzusehen. Abbey gab sich keinerlei Mühe, ihm zu gefallen,
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