Geliebter Freibeuter
Kate, hast du das etwa vergessen? Und unsere Entführer sind gerade dabei, ein friedliches englisches Handelsschiff zu überfallen und auszurauben. Vielleicht werden sogar Menschen getötet …«
»Nein, Mylady, im Gegenteil!«, rief Betty aufgeregt. Nie zuvor hatte die zarte Gestalt derart die Stimme erhoben. »Der Captain ist ausgefahren, um Menschen zu retten! Dabei riskiert er sein eigenes und das Leben seiner Männer. Jeden Abend bete ich zu Gott – Eure Religion hat mich der Captain gelehrt –, er möge ihn beschützen und gesund wieder nach Hause bringen.«
»Ach, jetzt ist Dark Flynn nicht nur ein Heiliger, sondern auch noch ein Samariter?«
»Samariter? Was ist das?«, fragte Betty, die den Ausdruck nicht kannte.
»Das ist gleichgültig.« Eloise winkte ab. »Wenn man uns vielleicht mal sagen würde, was hier vorgeht … dann könnteich vielleicht auch ein ganz klein wenig Sympathie für den göttlichen Flynn aufbringen.«
»Eloise, es besteht kein Grund, so zynisch zu sein«, mahnte Kate, aber Betty lächelte und meinte: »Schon gut. Ich verstehe ja, dass Myladys Meinung über den Captain getrübt ist, da er Euer Schiff überfallen und Euch auf die Insel gebracht hat. Ihr müsst jedoch wissen, Mylady, der Captain hat ein großes Herz für alle Menschen, die ungerecht behandelt werden.«
Eloises Interesse war geweckt. Bettys Worte klangen zwar sehr nach maßloser Schwärmerei, dennoch wollte sie mehr erfahren.
»Du hast gesagt, Flynn habe dein Leben gerettet? Wie kam es dazu?«, fragte sie.
In Bettys Augen trat ein träumerischer Ausdruck.
»Wir waren geraubt worden, mein Vater, mein Bruder und ich und noch andere von unserem Stamm. Auf dem Schiff war es … schrecklich …« Schmerzvoll verzog sie ihre Lippen. »Wir dachten, wir würden alle sterben. Wenn nicht auf dem Schiff, dann dort, wo man uns hinbringen würde, denn nie zuvor war jemand zurückgekehrt. Doch dann gab es einen schrecklichen Kampf, und der Captain befreite uns. Wir wurden auf diese Insel gebracht. Die Kranken und Verletzten wurden gesund gepflegt, und einige, so wie ich, entschieden sich zu bleiben. Solange ich lebe, werde ich dem Captain dankbar sein und ihn mit meinem Leben schützen, wenn es sein muss.«
Eloise schwirrte der Kopf.
»Hast du das verstanden?«, fragte sie Kate, die ebenfalls ratlos aussah. »Betty, wer hat euch wo geraubt?«
»Na, die bösen weißen Männer. Seit vielen Jahren kommen sie an die Küste und fangen die Menschen ein, das hatmir bereits mein Großvater erzählt. Sie haben Feuerstöcke – so nannten wir die Gewehre damals –, und wenn jemand zu fliehen versucht, dann töten sie ihn.«
»Und wo ist diese Küste?«
»Zu Hause.« Bettys Blick verklärte sich, und leise fuhr sie fort: »Mein Vater und mein Bruder sind wieder zu Hause, aber ich bleibe beim Captain … solange ich lebe …«
Eloise tauschte mit Kate einen verwunderten Blick. Sie war aus Bettys Erzählung nicht schlau geworden, in ihren Ohren klang alles recht verwirrend. Eines jedoch war der jungen Frau klar und deutlich anzusehen: Sie liebte Dark Flynn von ganzem Herzen! Und diese Erkenntnis ballte sich wie ein Klumpen in Eloises Magen zusammen.
Tag und Nacht waren die Wachposten auf Mantana Island besetzt, um nach der
Liberty
Ausschau zu halten. Drei Kanonenschüsse hallen durch die friedliche Stille, als die Segel am Horizont gesichtet wurden.
»Er ist wieder da! Der Captain ist wieder da!« Betty tanzte rufend durchs Haus. »Er wird Hunger haben …«
Eloises Pulsschlag beschleunigte sich. War Dark Flynn wirklich unversehrt zurückgekehrt, oder war es nur sein Schiff? Sie beherrschte sich, nicht mit den anderen zum Hafen zu eilen, als die
Liberty
Anker warf und die ersten Boote zu Wasser gelassen wurden. Sie wollte nichts mit den Machenschaften des Piraten zu tun haben, auch wenn hier alle so taten, als wäre Dark Flynn ein Heiliger und ein Mann, der stets nur Gutes im Sinn hatte.
Es war später Nachmittag, als es Eloise nicht mehr allein in ihrem Zimmer aushielt. Sie hatte Kate nicht daran ge hindert, mit Betty zum Strand zu laufen, und bisher warkeine der Frauen wieder zurückgekehrt. Im Haus war es totenstill, auch draußen war niemand zu sehen. Instinktiv lenkte Eloise ihre Schritte durch den Wald zu den Holzhütten. Hier konnte sie schon von weitem laute, aufgeregte Stimmen hören. Als sich der Wald lichtete, blieb ihr vor Überraschung beinahe die Luft weg. Auf der am vorigen Tag noch menschenleeren Lichtung
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