Geliebter Lord
hast?«
»Jahre«, antwortete er. Über sie zu sprechen brachte sie ihm lebhaft in Erinnerung. Während seiner ganzen Zeit in Indien hatte er sie nicht so vermisst wie in diesem Augenblick. Das konnte nur mit Mary zusammenhängen.
In Indien hatte er sich bemüht, seine Folterer nicht zu hassen, denn das kostete Kraft, und die brauchte er, um am Leben zu bleiben. Nach einer Weile erlangte er einen Zustand, als schwebte er in einem Nebel, und das war vielleicht einer der Gründe, dass er überlebte.
Aber nach Marys Ankunft verflüchtigte sich der Nebel, und Hamish begann wieder zu fühlen, Erwartetes und Überraschendes.
Er drehte die Fische auf die andere Seite.
»Was ist mit dir?« Sie war aufgestanden und kam auf ihn zu. »Manchmal«, sagte sie leise, »gehst du einfach weg. Dann legt sich ein Schleier vor deine Augen, und ich weiß, du denkst an Indien. Eines Tages werden die Schrecken vergessen sein, und du wirst nur noch Stolz empfinden, wenn du dich erinnerst.«
»Stolz?«, fragte er verdutzt. »Worauf?«
»Darauf, überlebt zu haben.«
»Ich habe Teile meiner Seele aufgegeben, um meinen Körper zu retten.«
Sie kniete sich neben ihn, legte die Hand auf seinen Arm und schaute ihn erschrocken an.
»Daran siehst du, dass ich nicht sterben wollte«, setzte er selbstironisch hinzu.
Er drehte sich weg, griff sich einen Teller, legte die Fische darauf und stellte ihn auf den Tisch. Dann stand er auf und zog sie in seine Arme. Ihr heißer Atem streifte seine Kehle.
»Lass uns eine Übereinkunft treffen«, sagte er. »Wir werden nie wieder über Indien sprechen. Dann ist es, als wäre das alles nie geschehen.«
»Und die Spuren auf deinem Körper stammen von chinesischen Konkubinen.«
Er lachte. »Was weißt du denn über chinesische Konkubinen?«
Sie rückte von ihm ab und lächelte zu ihm auf. »Ich habe Ohren, und es kommen viele Fremde nach Inverness.«
»Und einer war dein Patient und hat dir davon erzählt?«
Sie zog die Brauen hoch. »Ich kann dir versichern, dass all meine Patienten wohlanständig sind.« Sie schaute weg, und ihre Wangen färbten sich. »Nicht, dass du das nicht wärest, Hamish.«
Er grinste. »Ich denke, wir sind uns einig, dass ich es nicht bin.«
»Dann bin ich es auch nicht.«
Es war Lust gewesen, was ihn veranlasst hatte, Mary zu bitten, bei ihm zu bleiben, der Hunger nach einer Frau. Er hatte nicht erwartet, Sympathie für sie zu entwickeln, mit ihr lachen zu können. Und er hatte noch nie eine Frau wie sie kennengelernt, eine Tatsache, die er tunlichst für sich behalten würde. Aber was hatte Mary bewogen, seine Bitte zu erfüllen?
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leicht auf die Lippen.
»Hast du dich in deinem Handeln immer von Anstand leiten lassen?«, fragte er. »Gibt es nichts, dessen du dich schämst?«
Sie lächelte ihn an. Eine gefährliche Frau, eine Frau von Grazie, Charme und unendlichem Reiz, eine Frau, die den Wunsch in ihm weckte, seine Vergangenheit ändern zu können. »Natürlich gibt es das. Ich bin keine Heilige. Das hätten die vergangenen Tage dich eigentlich lehren müssen.«
»Hast du jemals etwas getan, was dich krank macht?«
Sie schüttelte den Kopf, aber er merkte ihr zu seiner Freude an, dass seine Frage sie nicht irritierte. Er sollte aufhören, sie zu prüfen. Ursprünglich war es ihm nur um ihren Körper gegangen, doch jetzt erkannte er, dass er ihre Vergebung suchte – oder zumindest ihr Verständnis für das, was er getan hatte.
Er wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass jemand es wirklich begreifen könnte, und deshalb hatte er sich zurückgezogen wie ein Leprakranker. In gewissem Sinn fühlte er sich tatsächlich aussätzig. Wie er sich nach diesen vier simplen Worten sehnte: Es ist dir vergeben.
Vielleicht wäre die Absolution ihm nie vergönnt.
»Wir sollten essen«, sagte er und zog einen Stuhl für Mary unter dem Tisch heraus.
»Es sieht köstlich aus.« Sie musterte Hamish, fragte jedoch nicht nach dem Grund für seinen plötzlichen Stimmungsumschwung.
»Es wird essbar sein«, erwiderte er ungewollt unfreundlich, versuchte jedoch nicht, es wiedergutzumachen. Wut kochte in ihm hoch, eine Schutzfunktion. In den letzten Monaten war er sich selbst genug gewesen, doch jetzt stellte er fest, dass er Mary brauchte, und diese Erkenntnis gefiel ihm ganz und gar nicht.
Mary beobachtete ihn schweigend. Ein wachsamer Ausdruck war in ihre Augen getreten, als wüsste sie, dass seine Wut nicht, wie es hätte sein
Weitere Kostenlose Bücher