Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
das hätte leisten können. Das Einzige, was er sich zugesteht, ist die große Terrasse vor seinem Miniapartment mit Blick in einen grünen Hinterhof. Von seinem Bett aus blickt man auf Himmel und Bäume. Er zieht nie den Vorhang zu, nicht einmal, wenn ich ihn darum bitte, weil ich mich abends beobachtet fühle und außerdem schlecht schlafe, wenn ein Zimmer nachts nicht abgedunkelt ist. »Ich muss das Gefühl haben, jederzeit nach draußen schauen zu können. Ich brauche unverstellten Weitblick, Natur vor dem Fenster«, hatte er immer gesagt. Verstanden habe ich das erst, als ich erfuhr, dass er jahrelang eingesperrt im Gefängnis gesessen hatte.
»Wirklich sehr schön«, sagt Claus gerade, während er die Treppe in unserem einsamen Ferienhaus wieder heruntersteigt. Er streckt die Arme in die Luft, macht ein Hohlkreuz und lächelt mich an. »Aber mein Rücken bringt mich noch um. Die Fahrt hierher war echt eine Quälerei.«
Mein Magen krampft sich bei den Worten »Bringt mich noch um« kurz zusammen, und ich frage mich, ob das so bleiben wird. Ob jedes Wort eine andere Bedeutung bekommt, ob mich immerzu alles Mögliche an die Tat erinnern oder ob es sich irgendwann normaler anfühlen wird.
Claus merkt nicht, was gerade in mir vorgeht, ebenso wenig wie vorher auf der Fahrt.
Egal, ich bin erleichtert, dass ihm das Häuschen gefällt, dass er lächelt, dass meine Ängste unbegründet scheinen, dass es sich so anfühlt, als würde sich die Lage entspannen. Ich beginne sogar, Pläne zu schmieden. Stelle mir vor, wie ich auf der Couch die sechs Bücher lese, die ich im Gepäck habe; wie ich in der Küche ein paar neue Rezepte ausprobiere, während Claus am weißen Sandstrand sein Lauftraining absolviert; wie wir dann mit einer Flasche Rotwein auf der Couch kuscheln … und alles wieder so wird wie – vorher.
Doch das passiert nicht, nicht heute Abend, nicht an den Tagen danach. Claus bleibt angespannt und gereizt, und ich habe keine Ahnung, warum. Er meidet Berührungen, dreht sich abends im Bett von mir weg, scheint von allen Themen, die ich anspreche, gelangweilt zu sein. Er ist so ganz anders als der Mann, mit dem ich am Isarstrand im roten Spitzen- BH Weißwein aus echten Gläsern getrunken habe.
Immer mal wieder flackert kurz Angst in mir auf, zu den absurdesten Anlässen, Bilder, die ich aus Horrorfilmen kenne und abgespeichert habe – wenn vor den Fenstern des Hexenhäuschens dicker Abendnebel wabert, wenn das Auto nicht anspringen will, wenn Claus in der Küche plötzlich hinter mir steht und ich ihn nicht kommen hörte –, obwohl ich Hannah am Festnetztelefon unseres Vermieters versichere, alles sei wunderbar und traumhaft; wirklich reden ist nicht möglich, denn die Frau des Vermieters lauert mit großen Ohren im Hintergrund. Außerdem komme ich mir reichlich doof vor mit meinen kleinen Panikattacken und will Hannah nicht unnötig erschrecken.
Und als wäre das nicht genug, streiten Claus und ich plötzlich wie ein altes Ehepaar: Ich nörgle, weil er schon morgens den Fernseher anschaltet, um irgendwelche Sportübertragungen anzusehen; weil er im Stehen pinkelt; weil er die Toilettentür nicht hinter sich schließt, sodass ich mit ansehen muss, wie er im Stehen pinkelt.
Er hat an mir noch viel mehr auszusetzen. Um genau zu sein, kommentiert und kritisiert er alles, was ich mache – zumindest kommt es mir so vor. Igitt, warum ist das Handtuch so nass?; Leg dein Schminkzeug doch nicht ausgerechnet ins Waschbecken; Wieso sind die Saftflaschen nicht im Kühlschrank?; Merkst du nicht, dass dein Koffer hier im Weg steht?; Wie kann man nur so lange schlafen?; Die Hitze hier drin ist unerträglich, das hält doch kein normaler Mensch aus!; War ja klar, dass du vergisst, den Weißwein ins Kühlfach zu stellen; Leg deinen Pullover nicht auf mein Hemd, du fusselst mir ja alles voll; Wie, du hast deine Mütze vergessen – wieso schreibst du dir nicht eine Liste, bevor du deinen Koffer packst?
Wie kann das nur sein?, frage ich mich. Habe ich mich derart in ihm, in uns getäuscht?
Wo ist bloß die Harmonie geblieben? Hängen diese unnötigen Streitereien mit seinem Geständnis zusammen? Sehe ich ihn jetzt plötzlich mit anderen Augen? Mir fällt zum Beispiel auf einmal unangenehm auf, dass Claus vor jedem Strandspaziergang die Landkarte studiert und den Weg so plant, dass wir bei einer Gehgeschwindigkeit von sechs Komma fünf Stundenkilometern genau dann am romantischen Aussichtspunkt ankommen, wenn die Sonne
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