Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Schlafmediziner für einen Artikel, an dem ich gerade arbeite, ganz zufällig dieses Buch. Es heißt Unheil . Die rote Unterzeile Warum jeder zum Mörder werden kann ist im Gegen satz zum gruseligen Titel relativ klein geschrieben, fast hätte ich sie übersehen. Aber genau sie bringt meinen Puls zum Rasen: Dieses Buch verspricht Erklärungen, nach denen ich förmlich lechze. Ich drängle mich mit einer genuschelten Entschuldigung an einem Mann im grauen Wollmantel vorbei und grapsche nach dem Buch. Es eilt, das Boarding läuft schon, und eigentlich habe ich keine Zeit mehr. Doch ich muss dieses Buch haben. Sofort.
Geschrieben hat es Josef Wilfling, ein Münchner Mord ermittler, der zweiundvierzig Jahre lang »im Polizeidienst tätig war«, wie ich auf dem Weg zur Kasse im Klappentext lese. Der ältere Mann mit schräg gekämmtem Resthaar auf dem Schwarz-Weiß-Foto sieht ein bisschen aus wie mein verstorbener Opa. Er lächelt mich freundlich an, als wolle er mir Mut machen.
Ich zahle und lasse mir für das Buch eine undurchsichtige Tüte geben – niemand soll sehen, was ich gekauft habe.
Ich hetze zum Terminal und steige durchgeschwitzt als Vorletzte ins Flugzeug. Ich möchte so schnell wie möglich einen Blick in dieses Buch werfen. Vielleicht hat dieser Wilfling sogar an der Aufklärung von Elkes Ermordung mitgearbeitet? Als Münchner Ermittler? Aber nein, das kann nicht sein. Oder doch?
Kaum habe ich mich auf meinen Platz geschlängelt und mich angeschnallt, hole ich das Buch aus der Tüte und reiße die Zellophanhülle auf. Meine Hände zittern. Mein Sitznachbar versucht, unauffällig einen Blick auf den Titel zu werfen. Ich drehe mich zur Seite. Das geht dich nichts an!, würde ich gern rufen. Schau weg! Lass mich in Ruhe!
Ich versuche, ruhiger zu atmen. Irgendwie muss es mir gelingen, diese Gefühlsausbrüche bei absurdesten Anlässen in den Griff zu bekommen. So kann es nicht weitergehen. Ich öffne das Buch und stoße noch vor dem Abheben der Maschine in der Einleitung auf folgenden Absatz: »… sogenannte anständige Bürger (haben) mehr Menschen umgebracht, bringen (sie) um und werden (sie) umbringen als alle Berufsverbrecher zusammen. Täglich werden Menschen zu Mördern, von denen niemand geglaubt hätte, dass sie jemals zu solchen Taten fähig sein könnten – am allerwenigsten sie selbst. Das mag unfassbar klingen, doch für mich war es der Normalfall. Ich hatte ständig mit Menschen zu tun, die Ungeheuerliches getan haben. Die Begegnungen mit diesen Tätern und den Verbrechen, die sie begingen, lässt letztlich nur einen Schluss zu: Jeder kann zum Mörder werden. (…) Jeder kann – spontan oder im Verlauf eines längeren Prozesses – in eine Lage geraten, aus der heraus sich bewusst und gewollt der Wille zu töten entwickelt.«
Es kommt mir vor, als würde er von Claus sprechen. Er und Elke waren – soweit ich weiß – der Inbegriff der »anständigen Bürger«. Die beiden entschieden sich, nach Claus’ Studium in Würzburg und Hamburg gemeinsam nach München zu gehen. Er hatte einen Job bei einer angesehenen Unternehmensberatung an Land gezogen, sie hatte die Aussicht auf eine leitende Position in einer Steuerkanzlei – nach der Banklehre hatte sie noch eine Ausbildung zur Steuerberaterin angehängt. »Ich hätte mir auch eine andere Stadt vorstellen können – Berlin, Köln oder Hamburg –, aber die Idee, nach München zu ziehen, gefiel mir am besten. Vor allem, weil da die Berge nicht allzu weit weg sind, und du weißt ja, wie gern ich in den Bergen bin und wie sehr ich Skifahren liebe. Und meine Mutter kann ich so auch regelmäßig besuchen. In einer Stunde bin ich bei ihr, wenn kein Stau auf der Autobahn ist«, sagte Claus, als wir uns gegenseitig erzählten, warum wir in München hängen geblieben waren. »Und später hätten wir dann mit dieser Berufserfahrung überall hingehen können.«
Gute Jobs mit Aufstiegschancen für beide, das passende Freizeitangebot, die Nähe zur Mutter im Allgäu, Pläne für später – Claus hatte wie immer an alles gedacht. Warum war ich eigentlich noch hier, anstatt nach Berlin zu gehen, wie ich es mir immer vorgenommen hatte? Ein mittelmäßig bezahlter Job, bei dem ich ein bisschen in der Welt herumkomme, ein großer Bekanntenkreis, eine für München ungewöhnlich preiswerte Wohnung – der Rest sind Zufall und Bequemlichkeit. Im Gegensatz zu Claus und Elke fehlt bei mir ein Lebensplan. Nicht nur jetzt, sondern schon immer.
Die beiden
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