Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
einzige Erklärung, die mir einfällt, ist, dass ich offenbar nach einer viel größeren Tragödie suche, nach etwas, das Claus’ Geschichte fast schon klein und unscheinbar wirken lässt. Ich lenke mich damit ab. Ich flüchte mich in das schrecklichste Kapitel der deutschen Vergangenheit, um Claus’ Vergangenheit auszublenden. Mein Verhalten ist makaber, schockierend und absurd – und ich schäme mich dafür. Trotzdem fällt es mir schwer, das neue Buch über das Leben in einem Konzentrationslager, das ich mir gerade bei Amazon bestellt habe, nicht aufzuschlagen. Ich habe wieder einmal das Gefühl, langsam durchzudrehen.
Und dann kommt dieser Fernsehabend auf meiner Couch, zusammen mit Claus. Sein Geständnis liegt jetzt über ein halbes Jahr zurück. Er futtert Chips, wie immer, wenn er fernsieht, während ich versuche, mich zurückzuhalten und nicht zu oft in die Tüte zu greifen, obwohl ich geradezu süchtig nach Chips bin – darum kaufe ich mir selbst nie welche. Im Fernsehen läuft die Verfilmung des Mankell-Krimis Die fünfte Frau .
Claus und ich haben erst vor Kurzem festgestellt, dass wir beide diese schwedischen Filme lieben, die so ganz anders sind als typische Hollywood-Produktionen. Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung, auch wenn meine frühere ungebremste Begeisterung für Krimis in der letzten Zeit deutlich nachgelassen hat. Noch vor wenigen Monaten waren Krimis in Buch- oder Filmform für mich ein Mittel zur Entspannung, zum Runterkommen, weil alles, was da auf dem Papier oder dem Bildschirm passierte, so wenig mit meinem Leben und meiner Realität zu tun hatte. Perfekt zum Abschalten, besonders bei amerikanischen Serien. Inzwischen ist es jedoch so, dass sich mein Gewissen meldet, wenn ich einen Krimi aufschlage oder einschalte – wie kannst du bloß eine Geschichte über Verbrechen als Mittel zur Entspannung betrachten?, denke ich. Und natürlich werde ich manchmal an Claus’ Vergangenheit erinnert, auch wenn die meisten Stoffe bewusst überzeichnet und manchmal – wie etwa CSI Miami – geradezu bizarr irreal sind. Und trotz meiner neuen, mulmigen Gefühle sitzen wir jetzt hier vor einem schwedischen Krimi. Zum ersten Mal sehen wir uns einen solchen Film gemeinsam an.
Irgendwann wundere ich mich darüber, dass mir früher nie aufgefallen ist, wie brutal und grausam es in manchen der Szenen zugeht – oder war das in den anderen Folgen nicht so schlimm? Ich will gerade Claus fragen, doch genau in diesem Moment sieht man, wie der Mörder einen Mann tötet. Er hat ihn im Wald halb nackt an einen Baum gefesselt und erdrosselt ihn nun, hinter dem Stamm stehend, mit einem Seil. Früher hätte ich das noch »erwürgen« genannt, doch seit meinem Friseurbesuch weiß ich es besser.
Das Opfer würgt, röchelt. Ich balle die Fäuste, drücke meine Fingernägel in den Handballen, bis es schmerzt, halte die Luft an, wieder galoppiert mein Herz. Die Geräusche, die das Opfer von sich gibt, sind kaum auszuhalten. Wie konnte ich mir früher so etwas ohne jede Gefühlsregung ansehen? Und dabei womöglich noch Popcorn oder Chips essen? Wo ist die verdammte Fernbedienung, wenn man sie braucht? Ich wage nicht, mich zu bewegen, den Kopf zu drehen und Claus in die Augen zu sehen. Was denkt er gerade? Ich bleibe bewegungslos sitzen, starre auf den Bildschirm. Es kommt mir vor, als würde diese Mordszene zehn Minuten dauern, dabei können es nicht mehr als dreißig Sekunden gewesen sein. Warum sagt Claus nichts? Denkt er an Elke? Daran, dass er sie gewürgt hat? Ist er genauso schockiert wie ich?
Endlich ist die Szene vorbei, ich sehe im Augenwinkel die Fernbedienung, greife danach, schalte aus und spüre, wie Claus neben mir zusammenzuckt.
»Oh, schon vorbei?«, fragt er, setzt sich gerade hin und legt den Arm um mich. »Ich hab alles verschlafen, fürchte ich. War er denn so gut wie die anderen?«
»Ein bisschen brutal«, nuschle ich, »aber sonst ganz gut.«
»Oh, erst kurz nach neun. Da sieht man mal, wie kurz diese Filme wirklich sind, wenn sie nicht durch Werbung künstlich in die Länge gezogen werden.«
»Hm.«
Ich würde ihn gern fragen, ob er wirklich geschlafen hat. Aber ich traue mich nicht.
Zur Tat schreiten
Am nächsten Morgen, einem Samstag, beschließe ich, dass es so nicht weitergehen kann. Ich muss etwas tun, einen ersten Schritt wagen. Claus ist heute bei einem Triathlon außerhalb von München, trotz des Schmuddelwetters, ich werde ihn erst abends sehen. Noch im Schlafanzug setze
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