Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
ich mich an den Computer, öffne den Ordner Mord, in dem ich die Artikel über Claus und die Tat vor fünf Monaten abgespeichert habe, ohne sie seitdem je wieder angesehen zu haben. Jetzt lese ich mir die Texte dagegen von vorn bis hinten durch. In jedem Artikel finde ich Fehler – mal stimmt das Alter von Claus oder Elke nicht, mal die Dauer ihrer Beziehung, mal das Stadtviertel, in dem die beiden gewohnt haben, dann wieder sind die Berufsbezeichnungen der beiden falsch; ich finde in jedem Text neue Varianten. Besonders verstörend ist es für mich, die Beschreibungen über Claus zu lesen. Er wird als Münchner Schickimicki dargestellt, ein typischer BWL er, ein Karrierehengst mit einem silberfarbenen BMW , der jetzt mit einem »sehr teuren Designeranzug« in der Verhandlung sitzt und früher regelmäßig Tauchurlaube auf den Malediven machte. Ich weiß, dass Claus in seinem Leben vier oder fünf herabgesetzte Boss -Anzüge für den Job gekauft hat und dass der Urlaub auf den Malediven seine bisher erste und einzige Fernreise war. Er sparte sein Geld immer für Skiurlaube und die Sportausrüstung. Seine weitesten Reisen führten ihn nach Ibiza, Kreta und Lanzarote – etwas, das ich als Weltenbummlerin immer traurig und fast schon bemitleidenswert fand. Für mich gehören Reisen in ferne Länder zu einem glücklichen, ausgefüllten Leben, und würde ich eine Million im Lotto gewinnen, würde ich natürlich sofort auf Weltreise gehen, nicht ohne vorher eine ausgedehnte Shoppingtour zu unternehmen. Claus war und ist da anders, und eben nicht der Münchner Schickimicki in Designerklamotten, der in exotischen Luxushotels an perlweißen Sandstränden absteigt – umso absurder finde ich das Bild, das die Schreiber dieser Artikel von ihm zeichnen.
Claus wird auch als weinerlich geschildert – er konnte bei seiner Aussage vor Gericht offenbar die Tränen nicht zurückhalten. Ich weiß eigentlich – oder sollte es wissen –, dass das eine typische Vorgehensweise im Boulevard-Journalismus ist. Zeigt ein potenzieller Täter vor Gericht keine Regung, bleibt er still und ruhig, wird er zum »eiskalten Killer ohne jedes Gefühl und ohne Reue«. Ist der Angeklagte dagegen emotional, weint und schluchzt, unterstellt man ihm in den einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften gern »Selbstmitleid«, »Heuchelei«, »Krokodilstränen« oder wie in diesem Fall »Weinerlichkeit«. Das gehört dazu, aber ich spüre trotzdem, dass es mich wütend macht. Wie, um alles in der Welt, verhält man sich denn in so einem Fall richtig aus Sicht dieser Prozessbeobachter? Zugleich bin ich froh darüber, dass Claus sich nicht zusammengerissen, sondern öffentlich geweint hat.
Ansonsten erfahre ich nicht allzu viel Neues – alles, was da steht, hat mir Claus bereits berichtet. Nur eine Sache lässt mich schlucken – Claus wird wegen Mordes aus »Heimtücke« verurteilt, steht da zu lesen. Das klingt schrecklich, und ich weiß auch nicht genau, was man da runter aus juristischer Sicht zu verstehen hat. »Heimtückisch«, das heißt für mich als juristischen Laien: verschlagen, hinterhältig, böse und gemein. Genau das Gegenteil von dem Claus, den ich kenne und liebe. Ich google nach »Mordmerkmal Heimtücke« und erfahre, dass das Opfer in so einem Fall »arglos« und »wehrlos« war, und der Täter beides ausgenutzt hat. Ich muss an unsere kleine Rauferei auf der Wohnzimmercouch denken, »typische Pärchenbalgerei« habe ich das Hannah gegenüber genannt. Da war ich auch chancenlos, praktisch wehrlos, denn Claus ist einfach zu durchtrainiert. Ist das mit »wehrlos« gemeint? Und »arglos«? Bedeutet es, dass sich Elke so wie alle anderen nie hätte vorstellen können, dass Claus ihr etwas antun könnte, dass er zu einer Gewalttat fähig ist? Ich habe keine Antwort darauf und muss feststellen, dass mich die Zeitungsartikel nicht weiterbringen, sondern mich noch mehr verunsichern und meine Fragenliste noch länger werden lassen.
Trotzdem öffne ich das letzte Dokument und zucke zurück. Da ist dieses Schwarz-Weiß-Foto, das ich beim ersten Überfliegen vor einigen Monaten völlig übersehen hatte. Nein, stimmt nicht ganz. Ich hatte es mit halbem Auge wahrgenommen, aber nicht wirklich beachtet. Ich dachte wohl, es gehöre zu einem anderen Thema, irgendetwas über einen Reaktorunfall oder so, denn der Mensch, der darauf zu sehen war, trug einen dieser weißen Schutzanzüge, die man seit Fukushima so häufig in Fernsehberichten gesehen hat;
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