Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
sein Gesicht war mit einer Art Schutzmaske verdeckt. Ich muss jedoch erkennen, dass ich mich getäuscht habe: Der Mann in dem Schutzanzug ist Claus, seine Arme sind hinter dem Rücken verschränkt, er ist offenbar mit Handschellen gefesselt. Ein Mann, wohl ein Kripo-Beamter, führt ihn zu einem wartenden dunklen Audi, ein anderer hält eine Jacke über seinen Kopf, sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Den Schutzanzug, der einem dieser Einweg-Maleranzüge aus dem Baumarkt ähnelt, musste Claus anziehen, weil die Kripo seine Kleidung zur Spurensicherung einbehalten hatte, wie die Bildunterschrift erklärt. Ich starre dieses Bild an; es zeigt Claus nach der Tat, unmittelbar nachdem er sich gestellt hat. Nur wenige Stunden davor stand er auf dem Dach eines Münchner Hochhauses und wollte sich das Leben nehmen.
Ich warte auf die üblichen Reaktionen meines Körpers: das Herzrasen, das Zittern, die Schweißausbrüche, das Dröhnen und Rauschen im Ohr, das Flimmern vor den Augen. Doch nichts davon passiert. Stattdessen fange ich an zu weinen, die Tränen schießen wie Gebirgsbäche aus meinen Augen, meine Nase beginnt zu laufen, und ich stoße kleine, komische Schluchzer aus. Ich heule wie ein Schlosshund. Endlich.
Eineinhalb Stunden später sind meine Augen wieder abgeschwollen. Ich bin geduscht, angezogen und mache mich auf den Weg zu einer Straße, deren Name ich in einem der Artikel gefunden habe. Irgendwo dort befindet sich das Hochhaus. Der Ort, an dem sich Claus nach der Tat das Leben nehmen wollte, es dann aber doch nicht geschafft hat.
Es war eine spontane Idee, dieses Haus zu suchen, es mit eigenen Augen zu sehen. Ich möchte versuchen hineinzukommen, nach oben zu fahren und die Stelle zu finden, an der Claus stand. Sehen, was er sah, die Höhe spüren, die kalte Luft einatmen, die gedämpften Geräusche der Stadt von oben hören.
Völlig verrückt? Oder wird es mir – wie ich hoffe – helfen, damit umgehen zu lernen? Drei meiner »A« kann ich auch in diesem Fall abarbeiten: aushalten, anhalten und vielleicht abschließen. Ich fange mit der Aufarbeitung von hinten an, habe ich unter der Dusche beschlossen, und arbeite mich von da langsam zur Tat vor.
In der U-Bahn und im Bus denke ich anfangs noch nicht an das, was mich erwartet; es sind viele Menschen um mich herum, und ich muss mich darauf konzentrieren, in die richtigen U-Bahnen einzusteigen und Bushaltestellen zu finden, die mir unbekannt sind. Doch nach und nach zweifle ich immer mehr an meinem Vorhaben. Soll ich das wirklich machen? Ich lasse zwei Linienbusse vorbeifahren, die mich meinem Ziel eigentlich näher gebracht hätten. Statt den Bus zu nehmen, laufe ich im Nieselregen, oder vielmehr schlendere ich, werde immer langsamer, je näher ich der Straße komme, in der das Hochhaus stehen soll. Ab und zu gucke ich auf mein iPhone, um zu überprüfen, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Ich kenne mich hier nicht aus, war noch nie zuvor in dieser Gegend. München ist keine Hochhausstadt, man muss schon weiter hinausfahren, an den Stadtrand oder in die ärmeren Viertel, um so etwas Ähnliches wie ein Hochhaus zu Gesicht zu bekommen. Nach dreißig Minuten bin ich in der richtigen Straße, zumindest der Straßenname stimmt. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass ich hier finde, wonach ich suche. Es ist eine typische Vorstadtwohnstraße mit niedrigen Einfamilien- und Reihenhäusern, davor handtuchgroße Gärten mit Schau keln und Blumenbeeten – ausgerechnet hier soll ein Hochhaus stehen? Ich laufe die Straße entlang, stülpe die Kapuze meines Mantels über meinen Kopf, die ich sonst nie benutze – ich will verhindern, dass meine Haare noch nasser werden. Ich verfluche mich für meinen Einfall, nach diesem verdammten Haus zu suchen, dafür durch die halbe Stadt zu fahren, nur um am Ende festzustellen, dass der Straßenname, der in dem Artikel genannt wurde, falsch ist – ein Fehler, genau wie all die anderen, die ich in den Zeitungen gefunden habe. Und was soll ich da eigentlich, wenn ich es gefunden habe? Einfach hineinspazieren, den Lift in den obersten Stock nehmen und dann durch irgendeine Sesam-öffne-dich-Pforte aufs Dach klettern? Wie habe ich mir das eigentlich vorgestellt? Natürlich wird die Haustür abgeschlossen sein – soll ich dann bei irgendjemandem klingeln und mich als Prospektverteilerin ausgeben? Was war das bloß für eine Schnapsidee?
Ich bin so beschäftigt damit, mich selbst zu beschimpfen, dass ich sie fast übersehen hätte
Weitere Kostenlose Bücher