Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Verbrechensanalytikers und Profilers Adolf Gallwitz: »Jemandem mit den eigenen Händen den Hals zuzudrücken und ihm dabei ins Gesicht zu sehen erfordert nicht nur ein erhebliches Maß an Kraft, sondern auch eine wahnsinnige Wut. Diese Art von Zorn empfindet man kaum gegenüber einer fremden Person.«
Erwürgen, so lerne ich auf dem Friseurstuhl, unter scheidet sich von Erdrosseln dadurch, dass der Täter seine Hände benutzt, dem Opfer körperlich extrem nahe ist, ihm in die Augen sieht, es minutenlang berührt, ohne auf ein Hilfsmittel wie etwa ein Stück Schnur, einen Gürtel oder ein Halstuch zurückzugreifen. Und es ist eine typische Tötungsmethode bei einer Beziehungstat – während Berufskiller, Raubmörder oder Täter, die mit dem Mord ein anderes Verbrechen verdecken wollen, wie etwa Einbrecher, es meist vermeiden, das Opfer zu lange anzufassen.
War Claus also rasend vor Wut und Zorn? Was ging bloß in ihm vor?
Direkt nach dem Friseurbesuch, mit frisch gefärbten und geschnittenen Haaren, suche ich wieder mal Rat und Hilfe bei Mordermittler Wilfling und werde fündig: »Bei vielen Beziehungstaten bin ich auf eine Kraft gestoßen, die im Gesetz nicht explizit genannt ist und die mir vorher auch nicht als potenziell gefährlich bewusst war, weil sie nicht als gefährlich oder verachtenswert gilt. Und doch ist sie vielfach Auslöser für schlimmste Verbrechen. Sie ist stärker als Vernunft und stärker als alle anderen Emotionen. Es die Angst. Aber nicht die Angst um das eigene Leben oder die Gesundheit, sondern die Angst vor Verlust. (…) Wer davon befallen wird und keinen Ausweg findet, kann gefährlich werden. (…) Ein Psychiater formulierte es einmal anlässlich eines solch tragischen Geschehnisses ironisch: ›Ist die Idylle bedroht, sieht Papi schnell rot.‹ Eine gefährliche Mischung aus Angst, Wut und Verzweiflung, die – findet sich kein Ventil oder gibt es keine Hilfe – zur Explosion führen kann.«
Angst – auch bei mir ist sie allgegenwärtig. Nicht so sehr Angst vor Claus oder Verlustangst, sondern die Angst, mich mit der Tat, dem, was geschehen ist, wirklich ausein anderzusetzen. Nicht nur den groben Ablauf, sondern Details, Gefühle, Motive zu kennen, die Fragen, die seit Monaten in mir brodeln, zu stellen und Claus’ Antworten anzuhören und auszuhalten. Meine Hoffnung ist, nach einer gewissen Zeit damit abschließen, das ewige Gedankenkarussell anhalten zu können. Viermal »a«, denke ich: anhören, aushalten, anhalten, abschließen. Ist das möglich?
Immer wieder liste ich innerlich Fragen auf. Warum haben Staatsanwalt und Richter die Tat als Mord und nicht als Totschlag eingestuft? Was ist geschehen, dass ausgerechnet du, der kontrollierte, vernünftige Claus, die Kontrolle über dich selbst verloren hast? Was hast du in diesen Momenten gedacht und gefühlt? Wie hat sich Elke verhalten? Wie ist sie gestorben? Und dann immer wieder diese eine Frage: Warum? Warum? Warum?
Eine kleine Stimme in mir flüstert: Vielleicht musst du das auch gar nicht wissen. Vielleicht reicht ja das, was er dir bisher erzählt hat. Man muss doch nicht jede kleine Ecke ausleuchten. Du kannst es nicht ungeschehen machen. Man muss doch nicht alle Fragen stellen. Gib dich zufrieden, blick nach vorn, nicht zurück. Lass es ruhen.
Hat diese innere Stimme recht? Und wenn ja: Bin ich überhaupt in der Lage, auf sie zu hören?
Es stellt sich bald heraus: Ich bin es nicht. Und das zeigt sich auf eine seltsame Art und Weise. Schon immer habe ich viel gelesen, im Moment lese ich jedoch wie eine Verrückte. Und zwar ausschließlich Bücher zu einem Thema: der Shoa, dem Holocaust also. Bereits während meines Geschichtsstudiums habe ich mich intensiv mit dieser Thematik beschäftigt und einige Seminare dazu besucht. Doch selbst in dieser Zeit habe ich nicht so viel dazu gelesen. Ich verschlinge zehn Bücher in einem Monat. Jede Nacht lese ich stundenlang und weine mich oft in den Schlaf angesichts der Texte, die versuchen, das Grauen zu schildern und begreiflich zu machen.
Irgendwann sagt Claus zu mir: »Kristin, du musst damit aufhören, du machst dich kaputt. Schon eines oder zwei dieser Bücher kann man kaum verarbeiten, aber diese Wahnsinnsmenge … In diesem kurzen Zeitraum … Hast du schon mal darüber nachgedacht, warum du das alles ausgerechnet jetzt liest?«
Nein, habe ich nicht, auch wenn das komisch klingt. Erst jetzt fällt mir auf, wie sonderbar ich mich verhalte. Warum mache ich das? Die
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