Geliebter Schuft
Bitte verzeih meine Nachlässigkeit und nimm meinen Dank jetzt entgegen. In Eile Constance.
Max las die kurze Nachricht immer wieder durch. Sie war ohne spürbare Wärme abgefasst, von einem künftigen Treffen war auch nicht andeutungsweise die Rede. Die Zeilen ergaben überhaupt keinen Sinn. Und wieso die Eile? Er zerknüllte das Pergament und warf es in den Papierkorb. Natürlich war es gut möglich, dass sie ziemlich beschäftigt war. Alle vierzehn Tage diese Zeitung herauszugeben, musste viel Zeit kosten. Er runzelte nachdenklich die Stirn und versuchte, sich an das Datum der Probenummer zu erinnern, die er im Salon gesehen hatte. Genau wusste er es nicht mehr, seiner Schätzung nach musste sie aber in diesen Tagen erschienen sein. Gut möglich, dass die Duncan-Schwestern von ihrer redaktionellen Tätigkeit stark in Anspruch genommen worden waren.
»Henry, ich möchte, dass Sie sich auf die Suche nach der letzten Ausgabe eines Presseerzeugnisses namens The Mayfair Lady machen.«
»Ich glaube nicht, dass ich davon schon hörte, Sir.« Henry zog fragend die Brauen in die Höhe.
»Nein, die Auflage ist nicht sehr hoch, denke ich. Sie werden es an mehreren Zeitungskiosken versuchen müssen. Am ehesten könnten Sie eine Nummer irgendwo am Parliament Square ergattern. Da das Blatt eine gewisse politische Stoßrichtung hat, könnte ich mir vorstellen, dass die Herausgeber es in Westminster besonders auffallend platzieren.«
»Sehr wohl, Sir. Ich will es gleich versuchen.« Henry nahm seinen Hut.
Max ließ sich an seinem Schreibtisch nieder, um die Post aus seinem Wahlkreis zu beantworten, doch nach kurzer Zeit saß er müßig da und starrte finster das Fenster an. Leichter Sprühregen traf auf die Scheibe. Vielleicht sollte er am Manchester Square einfach einen Morgenbesuch machen. Ihm war bewusst, dass er vor zwei Tagen nicht gezögert hätte. Es war völlig natürlich und für einen Samstagmorgen völlig statthaft. Sie würde da sein oder nicht. Und doch hielt ihn etwas Undefinierbares zurück. Unbehagen, ein nicht zu benennendes, nicht zu identifizierendes Gefühl, dass Arger bevorstand, ließ ihn an seinem Schreibtisch verharren und in den stürmischen Morgen hinausstarren.
Was mochte nicht in Ordnung sein? War ihr etwas zugestoßen? Gab es familiäre Probleme? Vielleicht mit ihrem Vater? Oder mit einer der Schwestern? Wenn dem so war, musste er zu ihr. Doch sie hatte ihn nicht um Hilfe gebeten, auch nicht um Trost oder sonst etwas, das er ihr in einem solchen Fall bieten konnte. Gewiss waren sie einander so nahe gekommen, dass sie sich an ihn wenden könnte. Als es darum ging, den Wagen ihres Vaters zu präparieren, hatte sie nicht gezögert, ihn zur Mitarbeit heranzuziehen. Vielleicht aber war sie mit der WSPU so beschäftigt, dass sie für andere Dinge keine Zeit hatte. Das wäre kein Wunder. Immerhin hatte sie die Arbeit für die Frauenbewegung als treibende Kraft ihres Lebens bezeichnet.
Plötzlich stand er auf. Einfach lächerlich. Sicher hatte sie übertrieben, als sie von ihrer politischen Arbeit sprach. Sie war eine intelligente, vernünftige Frau, keine wilde Fanatikerin. Irgendwie musste er sie zur Vernunft bringen, sie überreden, dass sie sich aus der Politik zurückzog. Dass sie ein Recht auf eigene Ansichten hatte, würde er nie in Frage stellen, doch er konnte sich eine aktive Frauenrechtlerin als Ehefrau nicht leisten. Es war nicht auszudenken, welche Auswirkungen das auf seine politische Karriere haben würde.
Max ließ seine Feder so heftig auf den Schreibtisch fallen, dass Tinte übers Löschpapier spritzte. Eben hatte er stumme Worte für etwas gefunden, von dem er gar nicht wusste, dass er es in Erwägung gezogen hatte, obwohl es natürlich schon seit Wochen in dem tiefsten Winkel seines Bewusstseins schlummerte. Sie hatte ihn von Anfang an fasziniert. Und allmählich hatte sich diese Faszination zu dem übermächtigen Verlangen gesteigert, sie zu besitzen und festzuhalten, sie als sein Eigen zu beanspruchen, jetzt und für immer.
Da er nicht zu blumigen Phrasen neigte, ertappte er sich dabei, wie er absurderweise versuchte, vor dem leeren Raum ein verlegenes Lächeln zu verbergen. Er sagte sich, dass sie eine sehr unbequeme Ehefrau abgeben würde. Doch es gab auch die Kehrseite der Medaille. Erregung. Constance gab ihm Auftrieb und reizte ihn, auch wenn sie ihn herausforderte. Aber für einen Karrierepolitiker war sie eine unmögliche Frau.
Wo also stand er?
Er hörte, wie die
Weitere Kostenlose Bücher