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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Lichtung unweit des Lagpunktes hält der Techruk sein Pferd an und sagt: «Du wirst das schon hinkriegen mit der Normerfüllung. Man kann ja ein zweimaliges Wenden anschreiben und hat Spielraum bei den Entfernungen. Zum Schluss hast du bestimmt einen Überschuss. Davon stellst du mir einen Schober auf, am besten hier, auf dieser Wiese.» Er wartet nicht einmal meine Antwort ab.
    Zu meiner Brigade gehören 35 Mann, mehrheitlich Ex-Kulaken, die sich in der Landwirtschaft auskennen. Bei wunderschönem Wetter lasse ich jeweils sechs bis sieben Leute auf einer Lichtung arbeiten, dann bringe ich sie auf einen anderen Platz. Die Mäher beginnen sofort mit der Arbeit, die Übrigen müssen die Grasflächen säubern, einen mehr oder minder trockenen Platz für die Heumieten vorbereiten, Äste und verfaulte Bäume wegräumen und auch mal hinderliches Gestrüpp weghacken. Schon da kann ich einiges für meine doppelte Buchführung herausschinden.
    Da die meisten Lichtungen versumpft sind, stehen meine Leute bei der Arbeit oft knöcheltief im Wasser. Die Schnitter haben es besonders schwer, weil das Moorgras in Büscheln ( kotschki ) wächst. Aber auch die anderen leiden unter der feuchten Wärme und noch mehr unter den Mücken. Da aber alle den Verpflegungshöchstsatz erhalten, sind sie motiviert und legen sich ins Zeug. Auch kleine Zuschläge zur Norm wissen sie sich zu beschaffen. Da die Leute unbewacht sind (für zehn oder zwölf Mähorte wären zu viele Wachsoldaten nötig), delegieren sie mal den einen oder anderen zum Kartoffelklauen oder zum Melken einer vereinsamten Ziege. Mit der Wattejacke unterm Hintern reite ich von Trupp zu Trupp. Wenn ich auftauche, steht manchmal schon ein Kessel mit Kartoffeln auf dem Feuer. Ich setze mich in den die Mücken verscheuchenden Rauch und lasse mir von den erfahrenen Bauernsöhnen erklären, was man so über die Heumahd wissen muss. Die Jungs sehen, dass ich mich für sie einsetze, und unterstützen mich gern. Besonders tut sich ein ausgezeichneter Schnitter und kräftiger Kerl namens Schander hervor. Er sagt mir, warum man das Gras in einer bestimmten Höhe mäht, weshalb man mit der Sense, die hier litowka genannt wird, nicht zu weit und nicht zu kurz ausholen darf, welche Schleifsteine gut und welche schlecht sind, wie man die Sense beim Schärfen halten muss, und dergleichen mehr.
    Nach dem Grundkurs hole ich dann mein Holztäfelchen raus und überschlage, welche Koeffizienten man für abgehackte Büsche und für die Feuchtigkeit des Heus, für sumpfige Böden und Unwegsamkeit, für Geringfügigkeit der Flächen und übergroße Abstände anwenden kann. Da alles glaubhaft klingen muss, besteht meine Arbeit im Grunde im Ausbalancieren verschiedener Koeffizienten, also aus der Kunst des Rechnens. Ich weiß von jedem Einzelnen, wie er arbeitsmäßig eingestuft ist, und schreibe allen, da sie ja sowieso keinen Lohn bekommen, unabhängig von ihrer Leistung ein oder zwei Prozent mehr an. Dabei mische ich Zahlen über Einstufungen, unterschiedliche Schwierigkeitsgrade und Arbeitsprozesse so durcheinander, dass sich außer mir keiner mehr zurechtfindet. Allmählich kommt auch das Futter für meine «illegalen Kühe» zusammen sowie eine gewisse Reserve für jene Tage, an denen es regnet, eine neue Lichtung erschlossen wird oder gar ein umgefallener Heuschober neu geschichtet wird. Oft sitze ich noch bis spät in die Nacht in der Zone und schiebe die meldepflichtigen Angaben im Kopf hin und her. Auch lege ich mir ein zweites Holzbrettchen zu, auf dem ich – verschlüsselt – die tatsächlichen Mengen vermerke.
    Außer meinen 35 Leuten arbeiten bei mir noch sechs Soldatenwitwen, die in der Siedlung neben der Zone wohnen. Sie haben sich wegen der Brotkarten gemeldet, auf die werktätige Frauen ein Anrecht haben. Die Lagpunktleitung geht natürlich davon aus, dass die Weiber, wie der techruk sie nennt, die allgemeinen Normen erfüllen. Das tun sie aber keineswegs. Sie kommen stets mit Verspätung zur Arbeit und strengen sich auch sonst nicht sonderlich an. Es geht ihnen, nicht zuletzt wegen der Brotkarten, merklich besser als 1942/43.
    Wenn ich nicht will, dass den Soldatenwitwen die Brotkarten entzogen werden, muss ich ihnen mehr anschreiben, als sie leisten. Erst habe ich versucht, ihnen ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, indem ich zwei, drei gute Arbeiter zu ihrer Unterstützung abkommandierte. Das hat aber nichts gebracht, denn die Witwen, die nach zwei oder drei Hungerjahren

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