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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Lagpunktes (diese Ehre gebührt eher der Kantine), dafür aber der Nachrichtenumschlagplatz des Gesamtlagers. Hier werden nämlich alle Neuankömmlinge entlaust, bevor sie den Lagpunkt betreten dürfen. Da ich der Erste bin, dem die Neuankömmlinge hier begegnen, werde ich mit Fragen über die hiesigen Zustände, die Arbeitsperspektiven und bestimmte Leute überhäuft («Ist nicht Vetter Konrad hier? Hat man nicht den lahmen Alex hergebracht?»), erhalte aber andererseits frische Informationen über Regime, die Verpflegungsnormen, den Arbeitsverlauf auf anderen Lagpunkten. Da erfahre ich zum Beispiel, dass es im OLP Likino drei Monate lang nur Gerste gegeben hat (Brot aus Gerste, balanda mit Gerstenkörnern, dafür aber kein Gramm Salz und keinen Tropfen Öl), dass in Tschischja die meisten, die auf Außenarbeit sind, neue Wattejacken bekommen haben und dass der Chef der Puksinka sein Büro mit Strom versorgt, indem er vier Männer die halbe Nacht um einen Dynamo herumtrotten lässt. Auch kommt mir zu Ohren, dass der junge Keßler (mein Pritschennachbar in Ossokarowka) wegen «konterrevolutionärer Propaganda» zu zehn Jahren Knast verurteilt ist und die ersten dochodjagi * (wie die Todeskandidaten im Lager bezeichnet werden) nach Hause, nach Kasachstan, abgeschoben worden sind.
    Eines Nachts wird ein Transport aus Merkuschino eingeliefert. Unter den Neuankömmlingen ist ein redegewandter Mann, der sich Breiting nennt und mit leicht österreichischer Färbung Deutsch spricht. «Du», sagt er, mich überschwänglich begrüßend, «bist also der Berliner, der in Moskau Geschichte studiert hat. Von dir habe ich schon viel gehört.» Wir kommen ins Gespräch, er fragt etwas über meinen Vater, überlegt kurz und fragt weiter: «Hat der nicht auch etwas veröffentlicht? Etwas Historisches?» Nun hat mein Vater (allerdings unter dem Namen meines Großvaters Berthold Ruge) zwei kleine Bändchen über Kant und Hegel publiziert, doch scheint mir Breitings Interesse für meine Familie verdächtig, sodass ich antworte: «Ja, über die Nibelungen.» Breiting schlägt sich mit der Hand an die Stirn: «Gewiss doch! Wie konnte ich das nur vergessen?! Der Titel war … ach, er liegt mir auf der Zunge.» «Die Frauengestalten der Nibelungen», sage ich ihm vor, und er entlarvt sich sogleich selbst: «Aber natürlich! Die Frauengestalten! Ein klassisches Werk – sehr beeindruckend! … Und wie hieß doch dein Vater mit Vornamen?» «Hermann», sage ich, und abermals wiederholt er: «Gewiss doch – Hermann Ruge. Ein großer Gelehrter!»
    Im Grunde weiß ich bis heute nicht, was ihn veranlasst hat, sich so euphorisch über ausgedachte Publikationen meines Vaters zu äußern. Ist er, wie ich anfangs vermute, nur ein gewöhnlicher Zuträger? Oder will er sich, um mein Vertrauen zu gewinnen, wichtigtun?
    Eigentlich ist Breiting Jude und heißt Braitin. Er hat sich, nach Paragraph 58 eingelocht, als Deutscher ausgegeben, um sich vor antisemitischen Ausschreitungen der Kriminellen zu schützen. Das hat aber zur Folge, dass er nach Verbüßung seiner Haftstrafe als Deutscher «mobilisiert» wird.
    Von dem, was er über sich selbst erzählt, glaube ich ihm kein Wort. Insbesondere bezweifle ich, dass er in Wien studiert oder promoviert hat. Als ich ihn jedoch 1948 zufällig in der Bibliothek der Swerdlowsker Universität treffe, erklärt er, er unterrichte nunmehr dort, und zeigt mir seine Wiener Promotionsurkunde. «Du hast doch», sagt er lachend, «nie geglaubt, dass ich meinen Doktor in Wien gemacht habe.»
    Breiting versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Kaum dass er sich in der neuen Umgebung umgetan hat, kommt er zu mir in die Sauna und fragt, welches der lukrativste Posten auf dem Lagpunkt sei. Ich überlege eine Weile und antworte: «Administrativer Leiter der Krankenstation außerhalb der Zone.» «Gut», sagt er, «morgen bin ich Administrator.» Ich lache ihn aus, doch am nächsten Tag meldet er: «Den Posten habe ich!» Zunächst vermute ich natürlich, dass er dies durch eine Fürsprache der Tscheka-Abteilung erreicht hat. Erst später erzählt er mir, dass er den wieder zu uns überführten Darlinger getroffen und in ihm den Staatsanwalt wiedererkannt habe, der ihn seinerzeit nach Paragraph 58 verknackt hat. Daraufhin habe er Darlinger gedroht, diese Tatsache unter den Insassen des Lagpunkts herumzuerzählen, und diese würden ihn totschlagen. Das war indes eine leere Drohung. Anders als im zünftigen Knast würde sich bei

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