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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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können. Meist kehren sie erst nach Stunden zurück. Einmal finden wir keine Umgehung und müssen ein Moorgebiet überqueren, indem wir Bäume fällen und sie paarweise zu einem auf Gesträuch gebetteten Übergang zusammenlegen. Das dauert zwei Tage.
    Die Nächte sind merklich kühler und länger geworden. Das hat den Vorteil, dass der Arbeitstag, der im Wesentlichen aus der Freilegung und Markierung des zurückgelegten Weges, dem Fällen von Bäumen, dem Weghacken von Sträuchern und dem Einebnen von Bodenwellen besteht, relativ kurz ausfällt. Dafür frieren wir in den Nächten umso erbärmlicher. Wir übernachten mitten in der Taiga. Dazu suchen wir uns eine einigermaßen trockene Stelle aus, an der sich jeder einen Haufen Äste als Unterbett zusammenklaubt. Wir legen uns rund um das Lagerfeuer, die Füße der Glut zugewandt. Ein alle zwei bis drei Stunden abzulösender Wächter sorgt für das Feuer. Die Wächter sind die ganze Zeit beschäftigt, legen Scheite nach und achten darauf, dass sich das Feuer nicht im Unterholz ausbreitet. Manchmal wird der eine oder andere mit den Worten geweckt: «He, Kumpel, deine Bachillen brennen.»
    Trotz allem ist die Stimmung einigermaßen gut. Das liegt natürlich an der Verpflegung. Wir bekommen 600 Gramm Brot pro Tag, abends gibt es eine dicke Suppe. Zwei oder drei Mal während unseres fünftägigen Vorstoßes bringen die Träger von der Shdanka sogar einen Sack mit geklauten Kartoffeln – Götz drückt ein Auge zu.
    Oft sitzen die Leute in der Dunkelheit noch lange am Feuer und schwadronieren über dieses und jenes. Es ist lange her, dass ich solchen Gesprächen zugehört habe. Ich beobachte, wie sich das Denken der Menschen, kaum dass sie ein wenig satt sind, von der unmittelbaren Umgebung löst und auf entferntere Dinge richtet. Dabei scheint das, was ein Mensch an Freude oder Genugtuung fassen kann, ziemlich konstant zu sein. Solange es um die Schüssel Wassersuppe geht, denkt der Hungrige nur bis zur abendlichen Essensausgabe. Geht es ihm ein bisschen besser, denkt er an die zusätzliche Suppe oder an das erschwindelte Stückchen Brot. Sobald er einigermaßen satt ist, stellt er Überlegungen über das Ende seines Lageraufenthaltes an, über seine Familie, die Rückkehr ins Heimatdorf. Zu weiter reichenden Überlegungen ist er unter den Bedingungen der Lagerhaft kaum imstande. Der Überlebenskampf hält ihn – und das gilt auch für den Großteil der politischen Häftlinge – von einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Regime ab und schützt die Lagerverwaltung vor unliebsamen Protestaktionen. Bemerkenswert ist, dass die Tscheka-Abteilungen die Häftlinge und «Arbeitsmobilisierten» immer wieder durch Zuführungen und heimtückische Verhöre usw. zu einer solchen Auseinandersetzung herausfordern, dass dies von den Insassen des Lagers zumeist lediglich als eine Störung des Überlebenskampfes und als unnötige Einmischung in den Tagesablauf der reibungslos funktionierenden Arbeitssklaven empfunden wird.
    Bei den allabendlichen Gesprächsrunden am Feuer dreht es sich immer um dieselben Themen. Vetter Loor, der älteste von drei gläubigen Brüdern, spricht davon, dass er nach seiner Rückkehr einen neuen Stall für die Gänse bauen wird. Vetter Heinrich berichtet, dass sein Vater eine Badestube gebaut hat. Auch die anderen lassen sich aus über Haus und Hof, Vieh und Gemüse und den Kolchos. Zwischendurch gibt es natürlich immer wieder Bemerkungen über die Faulheit der Russen oder die Dummheit der Tschuwaschen.
    Seit die ehemaligen Kulaken ihre Lebensmittelvorräte verbraucht haben, gibt es zwischen ihnen und den anderen Wolgadeutschen keine Unterschiede mehr. Am seltsamsten, ja geradezu putzig ist jedoch, dass selbst der einzige Wachsoldat, der uns begleitet, allmählich in den Chor jener einstimmt, die von ihrem Haus, ihrem Garten, seltener von ihrer Frau und ihren Kindern berichten. Er hat schnell die Distanz abgelegt, mit der die WOCHR-Soldaten uns gewöhnlich begegnen. Am ersten Abend hat er zwar noch versucht, einen Zählappell durchzuführen, doch inzwischen bemüht er sich, nicht aufzufallen, beteiligt sich am Holzsammeln und hat am zweiten Tag schon stillschweigend eine Portion der geklauten Kartoffeln angenommen.
    Am fünften Tag unseres Marsches ziehen wir aus, um den Standort des neuen Lagpunktes zu bestimmen. Götz entscheidet sich für ein Plateau mit lehmigem Boden, an dem ein kleiner Bach vorbeifließt. Wasser braucht man zum Kochen,

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