Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
«Kannst du nicht ein bisschen schneller machen, ich krepiere!»
Pietschmann setzt die «Brechstange» mehmals an, endlich schafft er es, ich kann meinen Fuß befreien. Was dann mit mir vorgeht, vermag ich nicht zu erklären. Ich krabble auf den zuletzt gefällten Stamm und krieche auf allen vieren in Richtung Wipfel. Mein Partner ruft mir etwas zu, aber ich verstehe ihn nicht. Erst als ich wegen der Äste in der Krone des Baumes nicht weiterkomme, halte ich an und schaue mich um, begreife, was passiert ist.
Pietschmann ist ganz aufgelöst, rennt umher. Als er bemerkt, dass ich am ganzen Körper schlottere, bringt er mir meine Jacke und streift sie mir über. Vergeblich bemühe ich mich aufzutreten. Pietschmann sieht, dass ich nicht gehen kann, und sagt, dass er zu den in ein, zwei Kilometern Entfernung arbeitenden Schleppern laufen und einen Pferdeschlitten besorgen will.
Dann ist er weg. Auf dem Baumstamm kauernd, versuche ich, mein Bein zu bewegen, doch der Schmerz im Fuß nimmt immer mehr zu. Langsam wird es dunkel. Die Bäume ringsum rücken näher. Die Stille ist beängstigend. Kein Ast knarrt, kein Windstoß bläst den Schnee von den Zweigen. Ewigkeiten vergehen. Dann tauchen hoch oben die Sterne auf. Die Kälte beginnt, sich bemerkbar zu machen. Ich fühle, wie meine Wangen erstarren. Die Finger im Fausthandschuh werden unbeweglich, die Zehen gefühllos.
Obwohl ich weiß, dass auf meinen Partner Verlass ist, zweifle ich plötzlich. Du Dummkopf, sage ich mir, worauf hoffst du denn? Dein Partner sitzt längst in der Kantine und löffelt seine Suppe. Warum sollte er sich auch mit mir abgeben? Ich werfe es ihm nicht einmal vor. So ist halt das Leben – es geht weiter. Ich gehöre nicht mehr dazu … Die Gedanken werden träge und träger. Jetzt wirst du erfrieren, denke ich. Es soll ein schöner Tod sein. Ich bemitleide mich nicht, vielmehr betrachte ich mich als eine fremde Person, die ich von außen beobachte. Und doch frage ich mich nach dem Sinn all dessen. Wozu ist das alles gewesen – die Kindheit, die Träume des Heranwachsenden, das Studium mit seinen unnützen Fakten und Theorien? Alles ausgelöscht und begraben.
Bin ich schon halb erfroren? Hat der Anfang vom Ende begonnen? Zusammengekauert, fast wohlig lausche ich wieder und wieder in die Taiga hinein. Nichts rührt sich.
Doch dann … Habe ich etwa Halluzinationen? War das nicht der Ruf eines Kutschers, der sein Pferd antreibt? Nein … Oder doch? Schließlich besteht kein Zweifel mehr – Pietschmann ruft mich, ein Kutscher feuert sein Pferd an. Und da sind sie schon – mein Partner und der mittlere der Gebrüder Loor. Sie betten mich vorsichtig auf den Schlitten, auf dem eine Schütte Stroh ausgebreitet ist (die haben sie aus dem Stall geholt, deshalb hat es so lange gedauert). Auf den ersten anderthalb Kilometern können wir uns nur im Schritttempo bewegen. Dann kommen wir auf die schnurgerade Eisstraße, und das Pferdchen rennt los. Mir scheint, als lindere die Geschwindigkeit den Schmerz. Ich werde lebendig und stachele den Kutscher an: «Schneller! Fahr schneller!»
Wieder scheint eine Ewigkeit zu vergehen. Schließlich fahren wir in elegantem Bogen vor der Baracke vor, ich hüpfe auf einem Bein zur Tür, stoße sie auf und rufe: «Jungs, ich bin unter ’n Baum gekommen!» Die Kumpel lachen, aber dann begreifen sie, dass es Ernst ist. Der Feldscher kommt, will mir den Steppstrumpf ausziehen, doch die leisteste Berührung lässt mich aufschreien. So muss die Bachille aufgeschnitten werden. Unter ihr kommt ein grünvioletter Fleischklumpen zum Vorschein – mein Fuß. Ich bin fassungslos. Der Feldscher versucht, mich zu beruhigen: Der Bluterguss werde in ein paar Tagen zurückgehen. Allerdings könne man erst dann feststellen, wie es um die Knochen steht.
Während der Feldscher einen Notverband anlegt, brülle ich wie am Spieß. Dann bindet er mit einer Schlaufe, die er an der Pritsche über mir anbringt, das Bein hoch.
So liege ich etwa eine Woche. Die Stimmung ist entsprechend. Immerhin nimmt die Geschwulst am Bein sichtbar ab. Auch die Schmerzen werden erträglicher. Ich bitte die Jungs, mir ein paar Krücken anzufertigen, so vermag ich mich zumindest zur Kantine zu schleppen und brauche niemanden zu bitten, mir mein Brot und meine Suppe mitzubringen.
Nach sechs oder sieben Tagen untersucht mich der Feldscher erneut. Er tastet den immer noch geschwollenen Fuß ab und stellt fest, dass einige Knochen im Spann gebrochen sind. Ich
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