Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
müsse, sagt er, so schnell wie möglich ins Krankenhaus nach Korelino. Das ist das Schlimmste, was mir passieren kann. Hier, auf der Schaitanka, bekomme ich (nach der letzten Planerfüllung) ein Kilo Brot, in der Krankenstation dagegen gibt es nur 300 Gramm. Überhaupt wird erzählt, man komme aus dem Krankenhaus eher tot heraus als lebendig.
Nachdem der Feldscher weggegangen ist, überlege ich fieberhaft, wie ich um den Krankenhausaufenthalt herumkommen könnte. Lange liege ich wach. Nach Mitternacht humple ich zur Kantine. Da ist oft noch jemand beschäftigt, mit dem ich zu dieser Stunde ein paar Worte wechseln kann. Möglicherweise lässt sich eine Schüssel Suppe abfassen. Mit der Suppe klappt es zwar nicht, doch dafür kommt mir eine blendende Idee, als ich einen ausrangierten Rundfunkempfänger in der Ecke stehen sehe. Tagsüber gibt er, wenn man ihn einschaltet, nur Krächzen und Piepsen von sich. Jetzt aber, mitten in der Nacht, kann man mehr oder weniger deutlich einzelne Sätze verstehen. Ich höre ein Kommuniqué des Sowjetischen Informationsbüros, in dem es heißt, die sowjetischen Truppen stünden vor Landsberg an der Warthe und die Alliierten hätten Kleve und Prüm eingenommen. Da durchzuckt es mich: Ich werde, denke ich, eine große Wandkarte von Deutschland zeichnen, sie in der Kantine aufhängen und auf ihr den aus dem Radio entnommenen Frontverlauf eintragen. Das wird Furore machen – ersehnen doch alle das Ende des Krieges, nach dem sie sich eine Wende des eigenen Schicksals erhoffen.
Als Götz, der öfter mal bei mir vorbeischaut, mich am nächsten Tag in der Baracke besucht, um mich zum Abtransport nach Korelino zu überreden, unterbreite ich ihm meinen Plan. Zuerst ist er skeptisch. Zwar wäre schön, die KWTsch (Kulturabteilung) durch diese Propagandainitiative zu übertreffen, aber wie wolle ich denn eine einigermaßen genaue Karte von Deutschland zeichnen? Und woher wolle ich wissen, wo die in den Frontberichten erwähnten Städte liegen? Auf meine Geographiekenntnisse und meine kartographischen Erfahrungen verweisend, gelingt es mir, seine Zweifel zu zerstreuen. Am Schluss des Gesprächs sichert er mir sogar zu, zwei Leute für einen halben Tag freizustellen, damit sie Bretter für die von mir benötigte Wandtafel sägen können.
Ich bin überglücklich und mache mich sogleich ans Werk. Erst humple ich zum Pferdestall, schneide, um Pinsel zu verfertigen, feine und grobe Haarbüschel aus den Schwänzen der Gäule. Dann suche ich mir in der Nähe eine Lärche, schlage Stücke ihrer rostbraunen Rinde ab und koche in einer alten Blechbüchse mehr oder weniger rote Farbe. Schwieriger ist es, dem instrumentaltschik ein paar Nägel abzuschwatzen, doch auch da habe ich Erfolg. Abends einige ich mich, auf Götz berufend, mit Pietschmann und Schander über das Sägen der Bretter.
In der übernächsten Nacht sitze ich, von dem immer wieder aus der Küche hervorlugenden Koch neugierig beäugt, in der Kantine und zimmere meine Schautafel zurecht. Dann wende ich mich dem Radio zu, höre von den Kämpfen in Ostpreußen, vom Vormarsch in Schlesien, von der Eroberung Bunzlaus (Bolesławiec) und beginne mit dem Zeichnen.
Nach vier oder fünf Nächten ist die Karte fertig und wird in der Kantine aufgehängt. Die Leute, die morgens zur Frühsuppe kommen, stehen mit aufgesperrten Mündern vor dem zwei mal drei Meter großen Brett und buchstabieren ungläubig Kjustrin, Schnejdemjul, Breslawl. Von nun an sitze ich jede Nacht in der Kantine (manchmal fällt auch eine Schüssel balanda für mich ab) und markiere auf der großen Deutschlandkarte den Vormarsch unserer und der alliierten Truppen mit braunroten Pfeilen (andere Farbe habe ich nicht). Die Amerikaner dringen ins Ruhrgebiet ein, die Rote Armee hat Breslau umzingelt. Die «Festung Deutschland» bröckelt an allen Ecken und Enden, der Krieg neigt sich dem Ende zu. Bisweilen beobachte ich, dass zwei, drei Mann vor der Wandtafel stehen, mit den Fingern auf der Karte herumfahren und rätseln, ob morgen diese oder jene Stadt eingenommen wird.
Viel zu tun habe ich nun nicht mehr. Da in den im Radio übertragenen Kommuniqués ständig auch die Kämpfe in Ungarn, Kroatien und auf dem italienischen Kriegsschauplatz erwähnt werden, beschließe ich, noch eine Karte von Europa anzufertigen. Pietschmann und Schander sägen wieder Bretter für mich, und ich koche abermals einen Topf Farbe. Die Europakarte gelingt mir, wie ich feststelle, nicht ganz so gut –
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