Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
entlassen, ließ sich in Jermakowo nieder, behielt aber seinen Arbeitsplatz in der Zone, wo er von Häftlingen und Freien mit «Genosse Doktor» angesprochen wurde. Er war jetzt 35, bärenstark und genoss die wiedergewonnene Freiheit. Bei 35 Grad Kälte legte er große Strecken mit Skiern zurück, wissend, dass er, falls zum Beispiel die Bindung kaputtging, hoffnungslos verloren sein würde. Im Sommer durchschwamm er – bei immer noch recht niedrigen Wassertemperaturen – den Jenissei, der bei Jermakowo acht bis zwölf Kilometer breit ist und bei dessen Durchquerung man bis zu 20 Kilometer abgetrieben wird.
1952 oder Anfang 1953 gelingt es Walter, über die Moskauer Konsularabteilung der DDR zu erfahren, dass unsere Mutter und Hans kürzlich aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt sind und sich in Potsdam niedergelassen haben. So kommt ein Kontakt zustande, und Mutter teilt ihm in einem ersten, überschwänglichen Brief mit, dass sie von 1947 bis 1949 Verbindung mit mir gehabt habe und dass ich in Soswa wohne. Daraufhin meldet sich Walter bei mir. Schnell kommt ein intensiver Briefwechsel in Gang, den ich sehr genieße. Da ich über Walter auch Mutters Adresse erfahre, schreibe ich ihr ebenfalls und bekomme – nach vier Jahren Unterbrechung – wieder Post von ihr. Nun reißt der sich überkreuzende Schwall von Informationen, Plänen und Hoffnungen nicht mehr ab. Obwohl Walter und ich uns, besonders wenn wir ins Ausland schreiben, einer «Sklavensprache» bedienen, verschwinden auch jetzt einige unserer Briefe, offenbar werden sie in Walters oder meiner NKWD-Akte in Swerdlowsk «auf ewig» aufbewahrt.
Ein zentraler Punkt unserer Korrespondenz ist natürlich die Frage unseres persönlichen Wiedersehens. Nach Stalins Tod beschließen wir, eine «Familienzusammenführung» zu beantragen. Als Wohnort kommt praktisch nur Soswa in Betracht. Es ist weit größer als das seit der Einstellung des Eisenbahnbaus ohnehin verfallende Jermakowo, liegt klimatisch weitaus günstiger und beschert uns zumindest alle zwei Tage Zeitungen, die an der Jenissei-Mündung oft wochenlang auf sich warten lassen. Ich tue mich nach einer Arbeitsmöglichkeit für Walter um und werde tatsächlich fündig, da die Stelle eines Röntgentechnikers im Siedlungskrankenhaus frei wird. So verabreden Walter und ich, gleichzeitig Gesuche zur «Familienzusammenführung» einzureichen.
Die Bearbeitung unserer Eingaben dauert etwas länger als ein Jahr, sodass Walter Anfang August 1954 mit seiner Ehefrau, Irina Andrejewna, die zu unserer Überraschung sogar noch ihre Mutter mitbringt, bei uns eintrifft.
Irina, genannt Ira, stammt aus einer Petersburger Intellektuellenfamilie, die im Anschluss an die Oktoberrevolution nach Lettland emigriert war. 1941, als die Sowjetarmee das Baltikum besetzte, wurde ihr Vater verhaftet und kam im Straflager um. Seine Frau und seine Tochter (Ira) kamen fünf Jahre später ebenfalls ins Lager. Nach ihrer Freilassung fuhren Ira und ihre Mutter ohne Genehmigung zurück nach Lettland, wurden gefasst und in ein Dorf in der Tatarischen Republik ausgesiedelt. Mit anderen Ankömmlingen wurden sie auf dem dortigen Marktplatz feilgeboten wie Sklaven, doch niemand wollte die beiden abgehärmten Frauen haben. Schließlich kam Ira als Sekretärin im Dorfsowjet unter. Da es aber im Dorfsowjet kaum etwas zu tun gab, musste sie als Verkäuferin im Dorfkonsum aushelfen, wo sie eines Tages ein Manko in der Kasse hatte. Sie kam vor Gericht und wurde zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt. So kam Ira nach Jermakowo, wo sie 1953, nach Stalins Tod, amnestiert wurde.
Die drei reisen über Swerdlowsk nach Soswa. Dank eines glücklichen Zufalls haben sie in Swerdlowsk einen Kinderwagen für Shenja erstanden. Taja ist ganz aus dem Häuschen – dieser Wagen, himmelblau und fast europäisch anmutend, ist in Soswa, wo man die Babys auf den Armen herumträgt, eine Sensation.
Im Herbst nimmt Walter seine Arbeit als Röntgentechniker im Krankenhaus auf und bekommt eine Dienstwohnung. Fortan besuchen wir uns alle zwei bis drei Wochen. Es wird geredet und gelacht. Walter berichtet gern über diesen oder jenen Schabernack, den er sich ausdenkt. So schaltet er früh um acht überlaut Radio Moskau an, lässt das Geläut der Kremlglocken erklingen, legt dann aber, wenn – Moskauer Zeit: sechs Uhr – die Nationalhymne dran ist, eine Platte mit der «Internationalen» auf, die in vorstalinschen Zeiten die sowjetische Nationalhymne gewesen ist.
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