Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Danach schaltet er auf Radio Moskau um. Die Nachbarn wundern sich: Wird die alte Hymne wieder gespielt?
In unseren Gesprächen taucht regelmäßig die Frage auf, ob es – wenn sich eine solche Möglichkeit ergäbe – nicht sinnvoll wäre, nach Deutschland zurückzugehen. Taja würde der Sowjetunion lieber heute als morgen den Rücken kehren (nicht jedoch in die Bundesrepublik übersiedeln, weil sie dann ihre Mutter nicht mehr besuchen könnte). Ich bin bei dieser Frage schon deshalb hin und her gerissen, weil ich die unterschiedliche Behandlung der Deutschen durch die Sowjetbehörden nicht durchschaue – der Ausgesiedelten hier und der Deutschen in der DDR, die mit Studienangeboten, Dienst- und Kongressreisen umworben werden. Einerseits male ich mir natürlich aus, wie ich im neuen Deutschland als Historiker arbeiten und die Kenntnisse, die ich im Studium erworben habe, anwenden könnte. Andererseits habe ich aus zweierlei Gründen schwerwiegende Bedenken gegen die Beantragung einer Ausreise in die DDR.
Erstens befürchte ich, dass die Welle der Nachkriegs-Schauprozesse, die mit Kostow in Bulgarien begonnen, sich über Rajk in Ungarn fortgesetzt und mit dem Verfahren gegen Slánský 1952 in der ČSSR einen vorläufigen Abschluss gefunden hat, sich demnächst über die DDR ergießen und möglicherweise gerade die Heimkehrer aus der UdSSR verschlingen könnte.
Zweitens sehe ich nicht, wie wir – allesamt Sowjetbürger – einen Ausreiseantrag stellen und uns zugleich gegen den leicht zu erhebenden Vorwurf des «Vaterlandsverrats» absichern könnten.
Aus anderen Gründen lehnt Walter eine Rückkehr nach Deutschland ab. Er hat nicht studiert, ist zwei Jahre älter als ich. Offenbar fürchtet er einen Neuanfang im fremd gewordenen Deutschland. Laut sagt er, dass er seine Genossen hier nicht verraten, sich kein leichtes Leben in Deutschland machen wolle. Nachdem Taja und ich schließlich ausreisen, stellt Walter aber ebenfalls einen Ausreiseantrag und verlässt 1957, mit 42 Jahren, die Sowjetunion.
In der DDR arbeitet Walter zunächst in der Fotoabteilung der DEFA*, wird dann hauptamtlicher SED-Parteisekretär. Kluge und integere Mitarbeiter der DEFA haben sich mir gegenüber sowohl sehr lobend als auch höchst abfällig über Walters Politikkommissariat in einem der größten Kulturbetriebe der DDR geäußert.
Seine Vorliebe für alles Sowjetische hat sich Walter bis in die späten Jahre bewahrt. Außer dem «Neuen Deutschland» wurden in seiner Familie vor allem sowjetische Zeitschriften gelesen. Ins Kino ging man stets im «Haus der Offiziere», wo nur sowjetische Filme gezeigt wurden. Seiner Tochter Tanja verheimlichte Walter bis zum 18. Lebensjahr, dass Ira und er im Lager gesessen hatten. Über Probleme des Stalinismus wurde mit ihr nicht gesprochen. Aus solchen und anderen Gründen kam es bald zu einer Entfremdung zwischen Walter und mir. 1959 hörten wir auf, einander zu besuchen.
MUTTER IN SWERDLOWSK
Wenn ich zurückdenke, muss ich mir eingestehen, dass Anfragen, Bittschriften und Erklärungen, die meine Mutter in großer Anzahl an die Partei, die Sowjetbotschaft, das Rote Kreuz und andere Institutionen richtete und die ich mit gelegentlichen Anträgen an das Präsidium des Obersten Sowjets oder die Swerdlowsker Gebietsverwaltung des NKWD unterstützte, nichts bewirkten, weil über unser Schicksal auf höchster Ebene entschieden wurde.
Sonderbar schien mir indes auch schon zu jener Zeit, dass Adenauer – nicht der die DDR repräsentierende Grotewohl – 1955 nach Moskau kam, die UdSSR diplomatisch anerkannte und dabei die Freilassung der restlichen, wegen Kriegsverbrechen verurteilten deutschen Gefangenen erreichte. Von diesem Zeitpunkt an konnte die sowjetische Führung, wenn sie einigermaßen glaubhaft erscheinen wollte, wohl kaum die Rückführung der übrig gebliebenen politischen Emigranten hinauszögern. Das dämmert mir allerdings erst viel später.
Im August 1954 fahre ich nach Swerdlowsk und beantrage für Mutter und Hans eine Besuchereinreise in die Sowjetunion. Ich erhoffe mir zunächst nur, Mutter unter vier Augen über die Verhältnisse in der DDR befragen zu können. Obwohl das NKWD in Soswa mir nicht verbindlich bestätigt, dass ich nicht mehr als Verbannter gelte und frei im Land reisen darf, entschließe ich mich, von Swerdlowsk aus nicht direkt nach Soswa zurückzufliegen, sondern einen Abstecher zum Schwarzen Meer zu machen. Ich setze mich (bei einem – kaum zu glauben –
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