Gelöscht (German Edition)
nachdenken, in dem Ben zu mir kam und sich verabschiedete. Ich habe die Erinnerung bislang, so gut es ging, verdrängt – sie fühlte sich wie eine Wunde an, die grauenhaft schmerzt, wenn sie berührt wird.
Dr. Lysander sagt, dass meine Träume aus zufälligen Gedanken und Bildern aus meinem Unterbewusstsein bestehen und sie keinen realen Hintergrund haben, auch wenn andere Menschen manchmal Erinnerungen in ihre Träume einbauen. Doch wenn man geslated wurde, muss man sich neue Erinnerungsarchive auf bauen. In der Zwischenzeit erfindet das Gehirn Ereignisse und Gefühle, um die Lücken zu schließen. Deswegen ist Dr. Lysander überzeugt, dass meine Träume reine Fantasiegebilde sind: Nichts von dem, was mich in meinen Träumen verfolgt, ist wirklich passiert.
Manches aber doch
.
Einige meiner Träume knüpfen an Erinnerungen aus meiner Vergangenheit an, genauso wie meine Zeichnungen – da bin ich mir sicher. Wie das Bild, das ich von Lucy gemalt habe: Die Berge ihrer Heimat im Hintergrund habe ich noch nie gesehen. Wie kann das also keine Erinnerung sein? Aber bei manchen meiner Träume bin ich mir weniger sicher. Wie der, bei dem meine Finger mit einem Stein zertrümmert werden. Er kam mir völlig real vor, und wenn ich jetzt daran denke, fühlt es sich wie eine Erinnerung an ein tatsächliches Erlebnis an. Aber vielleicht ist es doch nur die Erinnerung an den Traum? Und dann gibt es da noch den Traum von dem geslateten Jungen, dessen Levo abgeschnitten wurde: Er fühlte sich mehr als real an. Aber dann trat Ben an die Stelle des Jungen und so hätte es niemals passiert sein können. Meine Angst um ihn hat ihn dort eingebaut. Und die Träume, bei denen ich am Strand renne und verfolgt werde, sind noch unwirklicher. Sie sind weniger detailreich und fühlen sich nicht so an, als hätten sie irgendeine Art von Realität in sich.
Aber was ist mit Bens Abschiedskuss? Hat sein Geist mich in meinem Traum aufgesucht?
Geister sind Kindermärchen
. Ich weigere mich, das zu glauben. Trotzdem: Ben ist nicht tot, das kann nicht sein.
Vielleicht doch
.
Aiden: Ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge. Sein rotes Haar.
Ich renne am Saal vorbei, wo unsere Gruppensitzung stattfindet, und laufe weiter. Hat Aiden blaue Augen? Ja, sie waren dunkelblau und nachdenklich. Ich werde langsamer. Sommersprossen auf Nase und Wangen. Ich drehe um und gehe jetzt langsam. Auch an sein Lächeln erinnere ich mich. Kein Slater-Lächeln, sondern ein echtes. Oder? Er wollte mich für seine Zwecke benutzen – und Ben auch. Er hat Ben die Pillen gegeben und ihn auf diese absurde Idee gebracht.
Inzwischen bin ich fast bei der Halle. Ich schaue auf mein Levo: 8,1. Kann das sein? Trotz des Effekts des Laufens kann ich das kaum glauben. Als ich mit Jazz gerannt bin, war ich so verzweifelt, dass ich es gerade mal auf 5 geschafft habe.
Es ist die Wut.
Ich verstehe das einfach nicht. Mein Level fällt, wenn ich verzweifelt bin, aber Wut treibt es nach oben. Mir fällt ein, dass es schon ähnliche Situationen wie diese gegeben hat: als Wayne mich bedroht hat. Und auch damals im Bus mit Phoebe. Aber es ergibt keinen Sinn, denn Levos sind so konstruiert, dass sie auf alle extremen Gefühle reagieren. Der Kummer der letzten paar Tage hat meinen Wert wie erwartet unten gehalten und manchmal ist er sogar gefährlich tief gefallen. Aber Hauptzweck des Levos ist es, einen möglichen Gewaltausbruch und jegliche Bedrohung für sich selbst oder andere zu verhindern. Doch Wut scheint mein Level zu heben.
Kyla ist anders
.
Ich schaue zur Tür im Flur: Die Gruppe beginnt gleich und ich muss mich verhalten wie alle anderen. Tief einatmen, Schultern straffen, lächeln. Los geht’s.
Ich schnappe mir einen Stuhl.
Pennys Wangen leuchten unnatürlich rot. Ihr Lächeln scheint noch breiter zu sein als in den vergangenen Sitzungen. Dann bemerke ich ihn, in der Ecke des Saals. Er sitzt auf einem Stuhl und sieht aus, als wäre er lieber woanders.
Ein Lorder. Und nicht einfach irgendeiner: Es ist der jüngere der beiden Männer, der mich getragen und mein Zimmer durchsucht hat. Er trägt keinen grauen Anzug oder schwarze Einsatzkleidung, sondern Jeans und T-Shirt. Er wirkt fast normal.
»Hallo, Kyla. Dann sind wir ja vollzählig. Sollen wir anfangen? Hattet ihr alle eine gute Woche?«
Vollzählig: Sie weiß, dass Ben nicht kommt. Ich fühle einen Stich in meinem Inneren. Vielleicht war ein Teil von mir dumm genug zu hoffen, er würde trotzdem hier auftauchen. Dass alles
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