Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
Lippen, während sie an ihrer Gegenbeleidigung arbeitete.
Aber bevor sie etwas sagen konnte, fiel ein Schatten auf sie.
Es war Audrey. Sie sah so befehlsgewohnt und distanziert aus wie immer. Doch irgendetwas lag in ihrem Blick. Ein Hauch von Zärtlichkeit? Oder war das nur die Wirkung des Windes auf ihre Augen?
»Es ist so weit«, sagte sie. »Kommt.«
Eliot sprang auf. Er hatte Schmetterlinge im Bauch, aber nichtsdestotrotz wollte er, dass alles endlich vorüber war – so oder so.
Audrey langte nach unten und strich ihm den Polohemdkragen glatt.
Onkel Henry hatte auch Eliot Kleider geschenkt: ein schwarzes Hemd, einen marineblauen Blazer und khakifarbene Tuchhosen. Alles neu. Es passte perfekt. Das war ein völlig fremder Eindruck, nachdem er sein Leben lang Cees selbstgenähte Kleidung getragen hatte.
Sie gingen den überdachten Gang entlang. Auf einer Seite erstreckte sich Onkel Henrys palastartiges Anwesen mit seinen ionischen Säulen und bis zum Boden reichenden Fenstern, während auf der anderen das Meer toste und Möwen sich mühelos vom Aufwind tragen ließen.
»Wir haben Fragen«, sagte Eliot zu Audrey, »über die Familie, über dich, über uns.«
»Dafür haben wir jetzt alle Zeit der Welt«, antwortete Audrey.
Hieß das, dass der Rat zu ihren Gunsten entschieden hatte? Oder war das nur eine neue Aufschiebetaktik?
Audrey blieb stehen. Sie musterte prüfend ihre argwöhnischen Gesichter. »Es tut mir leid, dass ihr das durchmachen musstet. Die Prüfungen …« Sie sah beiseite. »Alles.«
Eliot hatte sie noch nie sagen hören, dass ihr etwas leidtat. Er hatte Mitleid mit ihr. Er war sich nicht sicher, warum, weil sie doch diejenigen waren, die ihr Leben lang belogen worden waren. Aber auch Audrey – seine Mutter – musste gelitten haben.
Er ergriff ihre Hand und drückte sie.
Seine Mutter erwiderte den Händedruck.
Fiona seufzte und nahm dann auch Audreys Hand.
Zusammen gingen sie bis zu dem Steinbogen, der sich von Onkel Henrys Anwesen zu der Insel vor der Küste spannte. Die Brücke bestand aus ohne Mörtel verfugten Steinen und wölbte sich hoch über den Schaumkronen und scharfkantigen Felsen.
Anders als beim ersten Mal, als er diesen gefährlichen Steg überquert hatte, dachte Eliot kaum darüber nach, als er auf die andere Seite ging und dort auf den dunklen Sand trat.
Fiona und Audrey kamen gleich hinter ihm.
Vor sich hörte Eliot eine große Anzahl von Stimmen. Als sie zur Hügelkuppe emporstiegen, blieb er beim Anblick des Amphitheaters stehen, das mit etwa zweihundert Leuten gefüllt war, die alle still wurden und sich umdrehten, um ihn anzustarren.
Jetzt hatte er Angst.
Es war nicht nur der Rat hier, um über ihr Schicksal zu befinden. Es sah aus, als sei die gesamte Liga der Unsterblichen zusammengekommen, um zu sehen, wie über sie gerichtet wurde.
Unter den prüfenden Blicken so vieler fühlte er sich winzig, unbeholfen, verlegen und unsicher, aber dann starrte er sie seinerseits an – genauso dreist und so hoch aufgerichtet, wie er konnte. Sollten sie ihn doch beurteilen.
Sie waren eine äußerst seltsame Ansammlung: Jede Rasse
war vertreten, Männer und Frauen, alt und jung, schön und hässlich, arm und phantastisch reich. Es gab Bauern und Könige, manche waren völlig nackt, andere in Pelze gehüllt, als ob ihnen kalt sei. Die meisten aber sahen wie Leute aus, denen man überall hätte begegnen können. Normal. Fast. Sie hatten dennoch diesen Blick – als stünden sie über einem und starrten durch ein Mikroskop jeden einzelnen Makel an.
Eliot holte tief Luft. Er schaute Fiona an. Sie sah ängstlich aus, aber auch trotzig.
Sie schritten die Stufen hinab durch die schweigende Menge. Die Temperatur sank mit jedem Schritt, bis es sich anfühlte, als würden sie erfrieren; dann standen sie in der Mitte.
Der Rat saß auf Steinklötzen – Tante Lucia in einem weich fallenden roten Kleid; Onkel Aaron, der ernst dreinblickte, mit verschränkten Armen; Cornelius, der nicht von seinen Notizen und Tablet-Computern aufsah; Gilbert, dessen goldenes Haar zu leuchten schien; Tante Dallas, die lächelte; und ein dunkelhäutiges, hochgewachsenes Ratsmitglied mit Zylinder, das aussah, als hätte es ein paar Zitronen gegessen.
Onkel Henry war nirgends zu sehen.
Niemand rührte sich oder sprach.
Eliot trat einen kleinen Schritt näher an seine Schwester heran, und sie standen nebeneinander, Schulter an Schulter.
Er schluckte und wandte sich dann an den Rat. »Wir haben
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