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Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils

Titel: Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Nylund
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in der Küche aufhalten, wo niemand ihn sehen konnte.
    Wolken trieben vor die Sonne, und eine Brise wirbelte die Blätter in der Gosse auf. Fiona war dankbar für den Schatten. Sie schüttelte sich das Haar aus dem Nacken; ihre Haut war jetzt schon klebrig vor Schweiß.
    Fiona konzentrierte sich und machte sich all die Dinge bewusst, die nicht in ihr Leben passten, das sonst so regelmäßig wie ein Metronom war: keine Hausaufgaben gestern Abend;
das Jules-Verne-Buch, das Großmutter ihr unter Missachtung ihrer eigenen Regel geschenkt hatte; die zerbrochene Teetasse gestern Abend …
    Cees Hände zitterten immer, aber sie ließ nie etwas fallen. Mit 104 Jahren konnte dieses Abschalten auch ein Schlaganfall gewesen sein. Fiona konnte sich ein Leben ohne ihre Urgroßmutter nicht vorstellen. Oder besser gesagt: Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein Leben allein mit Großmutter gewesen wäre.
    »Glaubst du, es geht ihr gut?«, fragte Eliot.
    »Cee? Klar. Sie ist ein Felsen.«
    »Woher weißt du, dass ich von ihr gesprochen habe?«, fragte Eliot gereizt.
    Fiona zuckte die Schultern. »Ich habe mir gerade Gedanken über die zersplitterte Teetasse gemacht.«
    »Du hast doch auch gesehen, wie Großmutter sie angeschaut hat?«
    Wie hätte einem das entgehen können? Großmutter hatte die Tasse mit intensivem, laserartigem Blick angestarrt, so als hätte sie die einzelnen Moleküle der Keramikscherben gezählt.
    Auf Fionas Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut, und die Welt schien zu kippen; die Wolken über ihnen wurden dunkler.
    »Hör mal«, flüsterte Eliot.
    Fiona hörte aber nichts. Es war, als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt. Keine Autos, keine Vögel; sogar das Surren der Hochspannungsleitung über ihnen war verstummt.
    Doch da war ein Pochen. Fiona spürte es eher, als dass sie es gehört hätte; es pulsierte in ihrer Magengrube.
    Dann plätscherten winzige, klingelnde Töne darüber hinweg, ein munterer Rhythmus direkt vor ihnen: Er erscholl aus dem Gässchen.
    Eliot bewegte sich darauf zu und beschleunigte seinen Schritt.
    Fiona beeilte sich, ihn einzuholen – mit jedem Schritt steigerte sich ihre Verwirrung.
    Sie hatte das höchst seltsame Bedürfnis zu hopsen. Als wäre
sie ein kleines Mädchen und als wäre dies ein erweitertes Himmel-und-Hölle-Spiel.
    Eliot kam vor dem Eingang des Gässchens schlitternd zum Halten.
    Der alte Penner saß mit untergeschlagenen Beinen da, lächelte und spielte Geige. Rings um ihn lagen winzige Umschläge; aus einigen ringelten sich Violinsaiten hervor. Er hatte keinen Bogen, also hielt er das Instrument auf dem Schoß und ließ eine Hand über das Griffbrett gleiten; mit der anderen zupfte er mit großer Geste an den neuen Saiten seiner Geige, als wären seine Finger winzige, tanzende Kosaken.
    Eliot trat näher heran, um besser sehen zu können – so nahe, dass der alte Mann die Hand ausstrecken und ihn hätte packen können.
    Fiona berührte Eliots Schulter und zog ihn sanft zurück. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihn weit von diesem Penner wegzuzerren, aber auch sie hatte das Bedürfnis, näher heranzugehen, als fiele der Bürgersteig gefährlich in Richtung auf die Musik zu ab. Plötzlich schien es leicht, näher heranzugehen, und schwieriger, sich zu entfernen. Nur ihr schwesterlicher Instinkt, ihren Bruder zu beschützen, hielt sie überhaupt noch zurück.
    Der alte Mann schaute zu ihnen hoch. Sein Lächeln wurde breiter, und das Tempo seiner Melodie beschleunigte sich.
    Die Noten tanzten an den Rändern von Fionas Gedächtnis: ein Kinderlied. Das war unmöglich, weil es in Großmutters Haus keine Kinderreime gab. Das hier war aber älter – aus der Zeit vor Großmutter. Eine Melodie, die jemand ihr flüsternd vorgesungen hatte, als sie noch ein Baby gewesen war.
    Schlaf, Kindlein, tanz im Traum,
    der Fluss trägt Blumen, Sonne, Flaum …
    Die Gänsehaut auf ihren Armen war hart wie Kies. Die Musik war ihr Herzschlag, das Pulsieren ihres Blutes – sie brachte sie zum Schwanken. Mit einem Fuß tippte sie den Takt.
    Fiona roch Rosen und frisch umgegrabene Erde. Sie sah sich selbst um einen weiß gestrichenen Pfahl tanzen, umgeben von bunten Bändern und anderen Kindern, die alle lachten, sangen
und in einer endlosen Spirale immer wieder um einen Maibaum stolzierten. 6 + 7
    Die Luft verschwamm um sie her, und das Gässchen zerlief wie Wasserfarben in einem Unwetter.
    Wie von ferne nahm sie wahr, dass ihre Hand von Eliots Schulter glitt.
    Die einzigen Dinge,

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