Gemischte Gefühle
Harmoniemodell. Du verläßt den Boden der Realität, Krabbe.“
„Ich bin unterwegs zu einer neuen Realität. Ich werde lernen, wieder selbständig zu denken.“
„Aber wozu?“ rief Spica und versuchte ihm ins Gewissen zu reden. „Wir haben im Monument doch alles, was wir brauchen! Der Große Betreuer hat uns mit den abgesenkten Atom-U-Booten ein Milliardenvermögen überantwortet.“
„Sie haben uns in die Boote gezwungen! Wir leben in Wracks, in Luxussärgen.“
Spica ließ sich von Krabbes Erregung nicht anstecken. „Ich lebe in Frieden in Trident Village! Ich schlafe in der Schlafmaschine, ich lerne in der Lernmaschine, ich kopuliere in der Kopulationszelle, ich beziehe meine Umwelterlebnisse aus dem Televisionsnetz …“
„Großartig!“ unterbrach der Junge ihre Litanei. „Großartig! Der Informator informiert dich, das elektronische Lexikon korrigiert dich, der Zentralcomputer kontrolliert dich, und der Große Betreuer manipuliert dich.“ Er hätte dieses standardisierte Wesen am liebsten so lange geschüttelt, bis … Aber er beherrschte sich. Temperamentsausbrüche auf einem Wasserbett blieben selten ohne komische Nebeneffekte.
„Ich bin geborgen im totalen Miteinander. Ich bin frei!“ Spica zog die Beine unter sich, setzte sich auf ihre Fersen und faltete die Hände zum Gebet:
„Großer Betreuer,
Der du bist allgegenwärtig,
Über dem Wasser
Wie auch hier auf dem Meeresboden,
Zu uns komme deine Energie und Weisheit,
Dein Wille sei unser Wille.
Unsere täglichen Minimine gib uns heute.
Erhalte uns den Fetisch des Fortschritts,
Führe uns in die große Verheißung
Und erlöse uns
Vom Übel der Vergangenheit.“
„Ja, winsle nur, Unsere täglichen Minimine gib uns heute!’ Weißt du auch, warum sie uns damit vollstopfen? Damit wir zwergenwüchsig bleiben! Damit uns die engen U-Boot-Wracks wie weiträumige Villen erscheinen! Damit wir der neuen ökologischen Sparformel entsprechen, dem neuen Anpassungsideal!“
Spica kauerte sich wie ein Embryo zusammen und preßte die Handflächen in den Schoß. „Dein Denken ist deformiert. Ich höre dir nicht mehr zu, Krabbe.“
Mit einem Mal wurde der Junge ganz ruhig, schwang die Beine vom Bettpodest und blieb mit geradem Rücken sitzen. Etwas wie Hellsichtigkeit überkam ihn; eine Hellsichtigkeit, die er klaren Herzens zu genießen begann, obwohl die Perspektiven, die sich ihm öffneten, zwielichtig und dämonisch erschienen …
„Sie haben uns an Phantasieaktivatoren gekoppelt, um unser gesundes Vorstellungsvermögen zu deformieren. Sie haben uns in ihrem unmenschlichen Humanmodell zu halbsynthetischen Marionetten gemacht. Ich will dir sagen, warum es in ganz Trident Village kein einziges Tier gibt, obwohl sich in jedem der sechsunddreißig Boote eine Laboratoriumszelle befindet: weil die Bataillone zu Tode experimentierter Rhesusaffen ausgedient haben. Weil wir jetzt an der Reihe sind! Das ganze Monument mit seinen 864 Life-Paß-Eignern. Wir sind jetzt das Versuchsobjekt Nummer eins.“
„Du bist außer Kontrolle, Krabbe. Du bist verrückt“, wimmerte Spica vor sich hin und versetzte sich in eine Pendelbewegung wie in einer Kinderwiege.
„Ich bin nicht verrückt“, antwortete Krabbe sanft, aber bestimmt. „Im Gegenteil, ich nähere mich endlich dem Normalen. Und darum sage ich dir, daß unser Fleisch weiß ist wie Fischfleisch. Daß unsere Körpertemperatur immer weiter absinkt, weil wir uns zu Kaltblütlern wandeln. Der Amphibia-Effekt ist der Schlager unserer Generation! Chemische Hauthärter verschuppen unsere Epidermis. Unsere lidlosen Augen glotzen immer muräniger. Und bald werden unsere Ohren zu Kiembögen verkümmern. Es lebe der Fortschritt in den Rückschritt. Der Aufbruch in die Urepoche hat begonnen. Gewebe wuchern für eine bessere Zukunft. Es tut ja nicht weh. Die Zeit bringt den Tod! Bete um die Gnade, daß du bald ersticken darfst, du mein kleiner, verlöschender Fixstern.“
Trotzig rappelte sich Spica auf die Knie hoch. „Ich werde leben! Ich bin weder eine Marionette noch ein Roboter. Ich bin ein …“ Sie stockte.
„Was?“
In der Pause, die entstand, schaltete das Mädchen den Ionengenerator aus.
Um dem Würgegriff der totalen Stille zu entkommen, sagte Krabbe: „Siehst du, du kannst es nicht einmal aussprechen, was du bist.“
„Du willst dich opfern. Ich habe gelernt, daß Opfer sinnlos sind.“
Krabbe stand auf. „Falsch, Spica. Nur vor dem Opfer sind die Mächtigen machtlos. Nur mit den
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