Gemma
hätte sie ihr Leben lang nichts
anderes getan. Nur hin und wieder suchten ihre Hände Halt an den Leinen, aber
die Art, wie sie das tat, zeigte deutlich, dass es nicht aus irgendeiner
Notwendigkeit heraus geschah. Mit versteinertem Gesicht verfolgte Bryce Gemmas
Weg. Sie trug wieder die Hosen, mit denen sie an Bord gekommen war, und eines
seiner Hemden. Ihr Aufzug war durch und durch unschicklich, aber so sehr er
auch nach Anzeichen dafür suchte, schien sich keiner der Männer daran zu
stören.
Endlich hatte Gemma ihre Arbeit beendet und turnte die Takelage
hinunter. Für das letzte Stück bis auf Deck ergriff sie ein Tau und schwang
sich auf das Achterdeck, genau vor Bryce' Füße. Ihr Atem ging keuchend vor
Anstrengung, aber der Glanz in ihren Augen und das strahlende Lächeln zeigten
deutlich, dass es ihr Spaß gemacht hatte.
Finster starrte Bryce sie an.
»Hallo, Bryce«, meinte sie nur und kontrollierte dann den Kurs,
den Daniels anliegen hatte. Zufrieden nickte sie. »Haltet sie vor dem Wind,
Mister Daniels«, befahl sie.
»Darf ich erfahren, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Bryce.
Seine Stimme klang düster, aber Gemma weigerte sich, sich einschüchtern zu
lassen. Sie hatte in den letzten Tagen hervorragende Arbeit geleistet. Ohne sie
wäre die Dragonfly noch immer unterwegs nach Mittelamerika, anstatt
voraussichtlich mit nur einer Woche Verspätung New Orleans zu erreichen.
»Darfst du. Aber lass uns dazu unter Deck gehen«, bat Gemma und
nahm seinen Arm. Bryce rührte sich nicht von der Stelle.
»Wozu? Befürchtest du, ich könnte etwas sagen, um dich vor den
Männern bloßzustellen?« Sein Blick glitt über sie, vom weißen Leinenhemd bis zu
den bloßen Füßen, die aus den weiten Beinen ihrer Hose herausragten. »Ich denke
nicht, dass das nötig sein wird. Du schaffst es auch ganz allein, indem du
dich vor den Männern halb nackt zur Schau stellst.«
Gemma bemerkte, wie ihr die Röte in die Wangen
kroch. Aus den Augenwinkeln sah sie hinüber zu Daniels, der seine Augen
geflissentlich geradeaus gerichtet hielt und das Gespräch scheinbar
ignorierte. Warum nur schaffte sie es nicht, kühl und unbeteiligt über Bryce'
bissige Beleidigungen hinwegzugehen?
Unbewusst straffte sie die Schultern und sah Bryce an. »Wenn du
damit fertig bist, mich zu beleidigen, können wir ja in deine Kajüte gehen. Ich
habe dabei übrigens mehr an dich als an mich gedacht. Du siehst aus, als
würdest du jeden Moment zusammenklappen.«
Bryce' Finger schlossen sich um die Ruderkonsole, bis seine
Fingerknöchel weiß hervortraten, aber er weigerte sich, ihrer Aufforderung
nachzukommen.
»Wie du willst«, meinte Gemma leichthin und drehte sich um. »Wenn
du damit fertig bist, deinen sturen Dickschädel durchzusetzen, weißt du ja, wo
du mich findest.« Leichtfüßig lief sie über das Achterdeck und verschwand in
der Luke zum Unterdeck.
Daniels starrte seinen Captain mit großen Augen an. Bryce wünschte
sich nichts sehnlicher, als Gemma in die Finger zu bekommen, aber er wäre
lieber gestorben, als Gemma die Genugtuung zu geben, hinter ihr herzubrüllen.
Eine halbe Stunde später hörte Gemma endlich Bryce' schwere Schritte
im Gang. Sie hatte sich bereits einige Male dabei ertappt, dass sie die Hand am
Türhebel hatte, um ihm entgegenzugehen, aber jedes Mal hatte sie dieses
Verlangen mit aller Kraft niedergekämpft. Diesmal würde sie nicht nachgeben.
Aber es fiel ihr schwer, ihre Entschlossenheit aufrechtzuerhalten, wenn sie an
die tiefen Linien des Schmerzes dachte, die sich links und rechts neben seinem
Mund eingegraben hatten. Die Narbe auf seiner Wange, die sie ansonsten kaum
bemerkte, hatte wie ein weißes, gezacktes Mal in seinem bleichen Gesicht
gestanden, und der Schweiß auf seiner Stirn hatte deutlich gezeigt, wie sehr
ihn der kurze Ausflug an Deck angestrengt hatte.
Aber es wurde Zeit, dass sie sich behauptete. Es wurde Zeit, dass
Bryce erkannte, dass sie nicht sein Eigentum war und dass er sie nicht nach
Belieben benutzen und hin- und herschubsen konnte.
Gemma fühlte sich nicht wohl dabei, ausgerechnet einen derartigen
Moment der Schwäche auszunutzen. Aber sie befürchtete, dass, sollte sie diese
Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, sie keine weitere bekommen würde.
Sie durfte Bryce nicht noch einmal die Möglichkeit geben, ungebremst über sie
hinwegzutrampeln. Noch immer hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er
sie eines Tages lieben und als seine Frau akzeptieren würde. Aber
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