Gemma
Gemma
überrascht. War das nicht der Hauptstreitpunkt gewesen, als Bryce in Kenmore
gewesen war?
»Das ist er auch. Robert stürzte etwa einen Monat nach seiner
Heimkehr vom Pferd und brach sich den Hals. Als Bryce nach fast drei Jahren das
erste Mal nach Hause zurückkehrte, wurde er wie der verlorene Sohn willkommen
geheißen. Es fehlte nur das fetteste Lamm, aber das hätte Lord Kenmore sicher
auch geschlachtet, wenn Bryce es verlangt hätte.« Tabby seufzte. »Das war vor
zehn Jahren. Seitdem ist das Verhältnis zwischen den beiden – sagen wir einmal
– mehr als gespannt. Bryce wünscht seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich
inzwischen als Amerikaner, nicht als Engländer. Er ist nicht auf das Erbe
seines Vaters angewiesen. Und Lord Kenmore wird nicht ruhen, bis Bryce nach
Hause zurückkehrt und seinen ihm angestammten Platz einnimmt.«
»Stimmt es, dass Lord Kenmore Bryce geschlagen hat und dass daher
die Narbe auf seiner Wange stammt?«, wollte Gemma wissen.
Tabby schüttelte den Kopf. »Großer Gott, nein.
Erzählen sich das die Dienstboten?« Gemma nickte, und Tabby lachte gackernd.
»Sie lieben es, aus allem einen Skandal zu machen. Nein, die Narbe hat Bryce
nicht von seinem Vater. Die stammt aus seinem Scharmützel mit Piraten, die
einmal versucht haben, uns zu überfallen.«
»Die Dragonfly?«, fragte Gemma
entsetzt.
»Nein. Die Dragonfly könnte jedem
Piratenschiff davon segeln. Damals waren wir noch auf einem Handelsschiff
unterwegs, das nicht dem Captain gehörte. Waren harte Zeiten damals, nicht so
gut wie jetzt, aber Master Bryce hat immer gewusst, dass er eines Tages sein
eigener Herr sein würde.«
Schweigend starrte Tabby auf den Horizont, und auch Gemma schwieg,
noch immer versunken in das, was Tabby ihr soeben erzählt hatte.
Sein eigener Herr.
Auch sie hatte davon geträumt, eines Tages ihr Schicksal selbst in
Händen zu halten, selbst zu entscheiden, was sie tun würde. Für diese
Unabhängigkeit aber würde sie Bryce aufgeben müssen. Wollte sie das immer
noch?
»Ihr liebt ihn, nicht wahr?« Tabbys Worte rissen Gemma aus ihren
Gedanken.
Einen Moment lang richtete sie ihre Augen auf
die Weite des Himmels, bevor sie mit Tränen in den Augen nickte. Ihr Hals war
wie zugeschnürt, und sie brachte kein einziges Wort heraus.
»Er ist kein Mann, der es einem leicht macht, ihn zu lieben, Miss
Gemma. Aber wenn Ihr sein Herz erst einmal erobert habt, wird Bryce Campbell
für Euch durch die Hölle gehen und wieder zurück.«
Nachts, als sie in der Hängematte lag und auf Bryce' gleichmäßige
Atemzüge lauschte, hallten Tabbys Worte in Gemmas Kopf nach. Ihr Herz krampfte
sich schmerzhaft zusammen, als sie daran dachte, was wohl geschehen würde, wenn
es ihr niemals gelang, Bryce' Herz für sich zu gewinnen.
Kapitel 18
Als Bryce am nächsten
Morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht und tatendurstig. Ein kurzer Blick
durch die Kajüte zeigte ihm, dass Gemma wieder einmal nicht anwesend war. Falls
sie überhaupt die Nacht in seinem Quartier verbracht hatte, hatte sie zumindest
keine erkennbaren Spuren hinterlassen.
Bryce biss die Zähne zusammen und stemmte
sich hoch. Es wäre doch gelacht, wenn er seine Frau nicht aufspüren konnte.
Kurz fragte er sich, wo Tabby und Jessup sein mochten, aber auch das würde er
erfahren, sobald er an Deck erschien.
Einen Moment blieb Bryce auf der Kante der Koje sitzen, bis das
Schwindelgefühl in seinem Kopf nachgelassen hatte. Er atmete einige Male tief
durch. Er schien tatsächlich länger krank gewesen zu sein. Hatte Gemma wirklich
Tag und Nacht an seinem Bett gewacht? Sich um ihn gekümmert und für ihn
gekämpft? Er ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, dass es wahr wäre, und
schob den Gedanken weit von sich. Falls Gemma das getan hatte, hatte sie
sicherlich auch ihre Gründe dafür, und er konnte es kaum erwarten, sie danach
zu fragen.
Bryce ballte seine Hände zu Fäusten und zuckte zusammen. Die Haut
seiner Handflächen spannte, und als er sie betrachtete, konnte er deutlich
erkennen, dass frische Haut seine Handflächen überzog. Natürlich, das
Steuerruder hatte ihm förmlich die Haut von den Händen gerissen. Vorsichtig
strich er über die noch zarte neue Haut. Jemand hatte seine Hände liebevoll
eingecremt. Die noch immer spürbare Hornhaut an seinen Fingerspitzen war jetzt
weich und nachgiebig. Für einen kurzen Moment stellte Bryce sich vor, wie es
wohl wäre, diese Hände über Gemmas Körper gleiten zu lassen. Wären sie
Weitere Kostenlose Bücher