Gemma
sich nicht anmerken.« Tabbys Blick
war in weite Ferne gerichtet, als würde die Vergangenheit vor seinem geistigen
Auge wieder aufleben.
»Bryce' Mutter, Lady Eleonor, war eine wunderschöne Frau. Bryce
liebte sie abgöttisch, obwohl sie ihm nie zeigte, dass sie seine Liebe
erwiderte. Irgendwie glaube ich auch nicht, dass Lady Eleonor überhaupt dazu in
der Lage war, Gefühle zu empfinden.«
Gemmas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich vorzustellen
versuchte, wie der kleine Bryce verzweifelt um die Liebe seiner Eltern rang.
Wie gut hatte sie es im Vergleich dazu gehabt. Sie hatte sich der Liebe ihrer
Eltern immer sicher sein können.
»Und dann kam der Tag, der Bryce' Leben
veränderte. Robert hatte gerade seine große Tour auf dem Kontinent beendet,
die nach Meinung seines Vaters zur Ausbildung eines Gentlemans gehörte, und
wurde jeden Tag zurückerwartet, als ein Bote eintraf. Das Schiff, auf dem
Robert den Kanal überquert hatte, war gesunken. Robert war nicht unter den
überlebenden. Von einem Tag auf den anderen war nun Bryce der Erbe des Barons.
Endlich wurde er von seinem Vater mit der Aufmerksamkeit überschüttet, nach
der er sich sein Leben lang gesehnt hatte. Aber insgeheim fühlte er sich
schuldig, weil der Preis für diese Aufmerksamkeit der Tod seines Bruders
gewesen war. Er war damals fünfzehn. Zwar war er schon sehr erwachsen für sein
Alter, aber tief in seinem Innern eben noch immer ein Kind.« Tabby seufzte.
»Er war hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen. Einerseits
blühte er förmlich auf, weil sein Vater sich jetzt fast ausschließlich mit ihm
beschäftigte – schließlich musste er noch so vieles lernen –, aber nachts, wenn
er glaubte, niemand würde es hören, betrauerte er den Verlust seines Bruders.«
Tabbys Blick senkte sich auf seine verkrampften Hände.
»Ich habe, glaube ich, schon erwähnt, dass Bryce seine Mutter über
alles liebte.«
Gemma nickte stumm, ohne dass Tabby es
bemerkte.
»Zwei Tage, nachdem sie die Nachricht von Roberts Tod erhalten
hatten, schwebte sie in all ihrer Pracht in die Bibliothek, wo der Baron Bryce
unterrichtete, und teilte ihnen mit, dass sie sie verlassen würde. Einfach so.
Ohne Robert gäbe es nichts mehr, das sie noch in Kenmore hielt. Noch am
gleichen Nachmittag fuhr sie nach London. Bryce ließ sich nicht anmerken, was
er empfand, sondern stand kerzengerade aufgerichtet neben seinem Vater, als
seine Mutter in die Kutsche stieg und aus seinem Leben verschwand. Sein Gesicht
war so unbeweglich wie eine Maske.«
Tränen strömten Gemma übers Gesicht, aber sie bemerkte es kaum,
sondern hing wie gebannt an Tabbys Lippen.
»Als ich abends in sein Zimmer kam, saß er
auf dem Boden, um ihn herum lagen Fetzen von Leinwand, und er war gerade
dabei, auch das letzte Bildnis seiner Mutter in kleine Stücke zu zerschneiden.
Nichts sollte ihn an sie – und ihren Verrat – erinnern. Das war das erste und
auch das letzte Mal, dass Bryce in meinen Armen geweint hat.«
Gemma schluckte. Langsam begann sie zu verstehen, warum Bryce
niemanden in sein Herz ließ.
»Aber es sollte noch schlimmer kommen.« Ungläubig weiteten sich
Gemmas Augen.
»Einen Monat später erhielt der Baron die
Nachricht, dass Robert noch lebte. Ein aus England kommendes Schiff hatte ihn
aufgenommen und zurück nach Frankreich gebracht. Von einem Tag auf den anderen
verlor der Baron sämtliches Interesse an seinem jüngeren Sohn. Zwar hatten
Bryce der Titel und die Ländereien nie etwas bedeutet, aber der erneute
Verlust der Liebe seines Vaters war zu viel. Noch in der gleichen Nacht packte
er ein paar Sachen zusammen und lief davon.«
Gemma war erstaunt zu erfahren, dass auch Bryce, genau wie sie,
davongelaufen war.
»Ich fand ihn in London bei den Docks. Er wollte auf einem Schiff
anheuern und so weit wie nur irgend möglich fort von zu Hause.«
Gemma nickte bedächtig. Irgendwie kam ihr das alles sehr bekannt
vor.
»Gemeinsam heuerten wir auf einem
Kauffahrteischiff an, das zu den Westindischen Inseln unterwegs war. Die ersten
Wochen war ich immer nur seekrank, aber Bryce lebte förmlich auf, als er die
Deckplanken unter seinen Füßen spürte. Wir segelten über alle sieben Weltmeere
und haben Orte gesehen, von denen hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt. Es
dauerte einige Jahre, aber dann war Bryce bereits Teilhaber an einem Schiff,
und noch ein Jahr später hat er selbst das erste gekauft.«
»Aber ich dachte, Bryce sei Lord Kenmores Erbe?«, fragte
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