Gene sind kein Schicksal
frühen Leben zu funktionellen und strukturellen Langzeitveränderungen führen«, prophezeien Mediziner im
New England Journal of Medicine
. [30]
Im Berliner Bezirk Pankow lebt ein Mann, der diese frühe Prägung ebenfalls für wichtig hält – und schon vor vierzig Jahren dazu veröffentlicht hat. Günter Dörner, ein Herr mit weißen Haaren und leicht getönter Brille, öffnet die Tür seiner Wohnung, führt den Besucher in die Loggia und breitet Papiere aus. Dörner, Jahrgang 1929 , war langjähriger Leiter des Instituts für Experimentelle Endokrinologie der Berliner Charité. Als wir über die vermeintliche Macht der Gene sprechen, ist der Mann in seinem Element.
»Es hieß ja immer, alles sei genetisch bedingt, aber inzwischen hat die Umwelt eine viel größere Bedeutung gewonnen. Sie kann über Hormone und Neurotransmitter auf das sich entwickelnde Gehirn einwirken. Gerade in den kritischen Phasen der Entwicklung kann die Aktivität der DNA durch Signale aus der Umwelt programmiert werden.« Diese Ausführungen sind bemerkenswert – weil Dörner bereits in den 70 er Jahren so gesprochen hat und als erster Wissenschaftler überhaupt das Prinzip der sogenannten perinatalen Programmierung mit wegweisenden Experimenten untermauert hat.
Seine Ergebnisse wurden allerdings in der westlichen Welt nicht groß wahrgenommen – weil Dörner seine produktivsten Jahre als Wissenschaftler in der DDR verbringen musste. Der Arzt und Hormonforscher hatte schon alles für seinen Wechsel von der in Ostberlin gelegenen Charité nach Westberlin vorbereitet. Doch ausgerechnet in jenen Tagen 1961 , als der Mauerbau begann und Ostberlin abgeriegelt wurde, befand sich Günter Dörner auf einem Kongress in Moskau und konnte seinen Plan nicht mehr verwirklichen. Anstatt in
Science
oder
Nature
zu veröffentlichen, mussten Dörners Aufsätze in Journalen wie
Acta Biologica et Medica Germanica
erscheinen.
Allerdings hat Dörner auch profitiert. Nach dem Mauerbau verließ sein Chef Walter Hohlweg als österreichischer Staatsbürger die DDR – und der junge Schüler übernahm den frei werdenden Posten als Direktor des Institutes für Experimentelle Endokrinologie der Charité. Wie er das Institut geführt hat, lässt sich aus einem Bericht der Staatssicherheit vom Mai 1984 ablesen: »Er ist sehr zurückhaltend, fast menschenscheu, aber auch egozentrisch. In seinem Institut übt er eine absolute Herrschaft aus, will über alles informiert sein, informiert andere jedoch nie. Auffällig ist dabei auch sein Bestreben, keine Genossen in seinem Institut zuzulassen.«
Viele seiner Experimente drehten sich darum, wie Sexualhormone das Verhalten beeinflussen. Beispielsweise ließ Günter Dörner männliche Ratten die ersten vier Wochen des Lebens ohne das männliche Hormon Testosteron aufwachsen und brachte sie dann wieder auf den normalen Testosteronspiegel. Die derart traktierten Tiere verhielten sich im Erwachsenenalter anders als unbehandelte Kontrollratten – für Dörner war dies ein eindeutiger Hinweis auf seine Programmierungstheorie: Äußere Einflüsse – in diesem Fall der Hormonspiegel – können die Arbeitsweise der Gehirnzellen offenbar in eine bestimmte Richtung lenken. Interessanterweise haben Forscher aus dem Westen später ähnliche Schlüsse gezogen. Der englische Psychologe Simon Baron-Cohen vermutet beispielsweise, dass die Menge an Testosteron im Mutterleib mit entscheidet, ob ein Mensch ein eher einfühlsam »weibliches Gehirn« entwickelt oder eher ein autistisch »männliches Gehirn«.
Frühe Mast, spätes Übergewicht
In anderen Experimenten in den 70 er Jahren haben Dörner und seine Mitarbeiter neugeborenen Ratten eine Dosis des Hormons Insulin gespritzt und geschaut, was passiert. Im Unterschied zu unbehandelten Artgenossen hatten die Ratten nach der Geschlechtsreife eine höhere Neigung zu Typ- 2 -Diabetes mellitus. Später entdeckten Dörner und sein Schüler Andreas Plagemann einen vergleichbaren Zusammenhang bei Menschen: Eine Erkrankung einer schwangeren Frau an Typ- 2 -Diabetes mellitus und die damit verbundene Überernährung des Ungeborenen erhöhen statistisch gesehen dessen Wahrscheinlichkeit für Diabetes und Übergewicht.
Die Befunde sind in den wohlgenährten Gesellschaften der Industriestaaten aktueller denn je. »Dick sein beginnt heute offenbar im Mutterleib!«, sagen die Berliner Mediziner Andreas Plagemann und Joachim Dudenhausen. [31] Sie befürchten, dass das Programm über
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