Gene sind kein Schicksal
Mutter aus Nordrhein-Westfalen etwa würde die Adoption ihres inzwischen 16 Jahre alten Sohnes am liebsten rückgängig machen, denn er ist wegen Körperverletzung und Vandalismus bereits aktenkundig. Am Telefon erzählt sie: »Wir wollten ein gesundes Kind, jetzt haben wir ein alkoholgeschädigtes Kind, mit dem wir nicht fertig werden.« Sie streitet mit den Behörden darüber, wer für die Folgen der angeborenen Erkrankung verantwortlich ist. Wer bezahlt für den Sohn, wenn er einen Platz in einem speziellen Heim benötigen sollte?
Der Maschinenschlosser Peter Schubert hat ebenfalls leidvolle Erfahrungen hinter sich. Zusätzlich zu zwei leiblichen Kindern haben er und seine Frau im August 1993 ein Baby in Pflege genommen, das sie für gesund hielten. Doch der Junge kam in Kindergarten und Schule nicht zurecht. Im Alter von 16 Jahren kann er, dem Vater zufolge, nur von 1 bis 20 zählen. Weil der Pflegesohn eine Betreuerin beinahe zu Tode würgte, lebt er nunmehr in einem Heim mit ständiger Rufbereitschaft.
Vor einiger Zeit haben die Schuberts einen Mediziner aufgesucht und durch ihn erfahren, dass die Probleme ihres Pflegekindes ihren Anfang offenbar im Mutterleib genommen haben. Sofort mussten die Eltern an die Gespräche mit den Mitarbeitern des Jugendamtes denken, als sie den Säugling aufnahmen. Sehr wohl war damals die Alkoholsucht der leiblichen Mutter bekannt, aber die Mitarbeiter hätten die möglichen Auswirkungen auf das Baby als unerheblich abgetan: Mit Liebe könne man viel ausgleichen.
Die Schuberts sind auch heute noch für ihren Pflegesohn da, aber im Nachhinein hätten sie sich vom Jugendamt eine bessere Aufklärung gewünscht. Der Vater sagt: »Ein Kind mit so schweren Einschränkungen hätte niemals in einer normalen Pflegefamilie untergebracht werden dürfen.«
Allerdings zeichnet sich ein Umdenken ab. Je mehr Mediziner über die molekularen Grundlagen des embryofetalen Alkoholsyndroms herausfinden, desto stärker wird diese vermeidbare Krankheit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Auch die Behörden reagieren. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe beispielsweise versucht, alkoholgeschädigte Babys in Pflegefamilien zu geben, die im Umgang mit bedürftigen Zöglingen besonders geschult werden. Die Mitglieder des Vereins FAS world Deutschland weisen unermüdlich auf das Syndrom hin und kämpfen gegen Alkohol in der Schwangerschaft. [28]
Frau Graf aus Berlin hat im eigenen Leib erfahren, was Alkohol einem ungeborenen Kind zufügen kann. Bis vor fünf Jahren hat die 41 Jahre alte Frau immer wieder und zeitweise ausschweifend getrunken und in dieser Zeit zwei Söhne geboren: Der ältere hat einen IQ von 85 , und er besuchte die Sonderschule. Der jüngere hat einen IQ von 111 und soll aufs Gymnasium kommen.
Obgleich die Söhne von verschiedenen Vätern stammen, ist der Mutter, die jetzt trocken ist und zu ihrer Geschichte steht, klar, warum ihre Kinder so unterschiedlich sind. Frau Graf sagt: »Ein Teil der Defizite meines ersten Sohnes rührt daher, dass ich während seiner Schwangerschaft wesentlich mehr getrunken habe als beim zweiten Kind.« Der ältere Sohn versucht gegenwärtig, eine Ausbildung als Teilfacharbeiter im Gartenbau zu schaffen. Er bemerkt seine Einschränkungen und hat den Grund dafür von seiner Mutter erzählt bekommen. Doch er ist geistig nicht in der Lage, ihr Vorwürfe zu machen – dazu haben einst zu viele Alkoholmoleküle auf seine Gene eingewirkt.
Die Entdeckung der perinatalen Programmierung
Das embryofetale Alkoholsyndrom ist das wohl eindrücklichste Beispiel dafür, wie äußere Einflüsse einen Menschen, der noch gar nicht geboren ist, für den Rest des Lebens prägen können. Neben dem Trinkalkohol können auch pharmakologische Wirkstoffe, Schadstoffe aus Zigarettenrauch und toxische Stoffe aus der Umwelt die Gebärmutter, das intrauterine Milieu, belasten. Das frühe Fehlen bestimmter Nährstoffe »wie Eisen, Jod, Folsäure, Docosahexaensäure ( DHA ) kann sich nachhaltig auf die Entwicklung und die Gesundheit auswirken«, urteilen Geburtsmediziner. [29]
Übergewicht, hoher Blutdruck, Diabetes, Allergien, die Aufmerksamkeitsstörung ADHS und Autismus gehen womöglich auf die Umstände während der Schwangerschaft und der ersten drei Lebensjahre zurück, allerdings sind diese Prägungen nicht so stark und umkehrbar. Der Mechanismus ist auch hier die Epigenetik; sie dürfte »einige Erklärungen dafür liefern, wie subtile Einflüsse im
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