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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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Kindern gesehen hat, ist der Berliner Kinderarzt Hans-Ludwig Spohr. In seine Sprechstunde an den DRK -Kliniken Berlin/Westend kommen verzweifelte Adoptiv- und Pflegeeltern von weit her und stellen ihr Kind vor. In anderen Fällen fragen Eltern um Rat, die sich noch nicht sicher sind, ob sie ein Kind adoptieren sollen, bei dem der Verdacht besteht, dass die Mutter ein Alkoholproblem hatte. In diesen schwierigen Fällen ist für Spohr Aufklärung des erste Gebot, und er zögert nicht, die Schwere der Behinderungen offen auszusprechen. Wenn bestimmte Strukturen im Gehirn zerstört sind oder sich gar nicht erst entwickeln konnten, dann können bestimmte kognitive Leistungen nicht entstehen, sagt Spohr. Potentiellen Eltern, die eigentlich ein gesundes Kind haben wollen, sagt er ganz offen: »Ein Kind mit einem Alkoholsyndrom adoptieren? Davon rate ich ab.«
    Das Urteil mag erschrecken, aber gerade die Befunde der Neurobiologen zeigen, wie gravierend die Symptome sind. In den beschriebenen Experimenten waren die schwangeren Mäuse einem Blutalkohol von 1 , 2 Promille ausgesetzt; einem Wert, der bei einem Rausch einer schwangereren Frau durchaus erreicht wird. Die Vermutung ist aber, dass schon viel kleinere Mengen an Ethanol ausreichen, um die Steuerung der Gene zu verändern – und damit ausgerechnet jene Phase stören, in der sich das Nervensystem des Ungeborenen organisiert.
    Die hirnorganischen Schäden führen nicht nur zu kognitiven Defekten, sondern offenbar auch zu merkwürdigen Handlungen, mit denen leider auch Heide immer wieder aneckt. Dazu zählen Verluste der Impulskontrolle: Wie aus dem Nichts werden die Eltern urplötzlich auf das Übelste beschimpft. Hinzu kommen Störungen der sogenannten Exekutivfunktionen: Die Betroffenen haben ein miserables Arbeitsgedächtnis, sie können nicht gezielt planen und handeln.
    All das summiert sich im Alltag und führt dazu, dass Heide praktisch nicht alleine leben kann. Sie würde weder Rechnungen pünktlich begleichen, noch könnte sie mit dem Geld haushalten. Zwar lebt sie seit kurzem nicht mehr zu Hause, sondern in einer Etagenwohnung in der Nähe ihres speziellen Kollegs, jedoch ist die Mutter mit ihr eingezogen und hilft der Tochter. Auch wenn man mit ihr fernsieht, kann man Heides Defizite bemerken: Die Filme über die Kaiserin Sissi, die sie besonders liebt, hält sie für echt. Wenn sie die Hauptdarstellerin zufälligerweise in anderen Filmen und anderen Rollen sieht, kann Heide das nicht verstehen.
    Das Syndrom ist erschreckend unbekannt
    Gerade weil man ihnen die kognitiven Probleme zunächst kaum anmerkt, bekommen alkoholgeschädigte Menschen in der Gesellschaft Ärger. Die Psychologin Gela Becker-Klinger, die in Berlin die bundesweit einzige Beratungsstelle für alkoholgeschädigte Kinder betreibt, hat das schon in vielen Fällen erlebt. Sie erzählt das Beispiel eines jungen Mannes, der vor einem S-Bahnhof in Berlin ein Fahrradschloss aufknackte – im Schein einer Straßenlaterne, um besser sehen zu können. Als ihn ein Polizist zur Rede stellte, war der Halbwüchsige sich keiner Schuld bewusst: Er klaue doch niemandem etwas, entgegnete er, sondern er leihe sich nur ein Rad für den Heimweg. »Der Junge hat das das wirklich so gemeint«, sagt Becker-Klinger. »Der Polizist kam sich natürlich veralbert vor.«
    Nicht nur Ordnungshüter tun sich schwer, die pränatal erworbenen Behinderungen zu erkennen. Ausgerechnet unter Mitarbeitern von Jugendämtern sei das embryofetale Alkoholsyndrom noch viel zu wenig bekannt, kritisiert Hans-Ludwig Spohr. Selbst wenn die Mutter eine stadtbekannte Alkoholikerin war, würden die Mitarbeiter der Jugendämter der Sache kaum nachgehen und die Trinkgewohnheiten während der Schwangerschaft nicht weiter recherchieren, sagt der erfahrene Kinderarzt.
    Andere Mediziner pflichten ihm bei. Der HNO -Arzt Volker Baschek etwa sieht in seiner Gelsenkirchener Praxis immer wieder alkoholgeschädigte Kinder, weil sie häufig Hörschäden haben. »Die Jugendämter sind gar nicht über das Krankheitsbild informiert«, sagt Baschek. Man könne sich nicht des Eindrucks erwehren, schrieb er in einem Leserbrief im
Deutschen Ärzteblatt
, »der Staat und die Jugendämter versuchen, ohne Berücksichtigung der möglichen gravierenden Folgen, das Risiko auf Adoptionsfamilien abzuwälzen«.
    Aufklärung durch Selbsthilfegruppen
    Enttäuschte Eltern haben bundesweit Selbsthilfegruppen gegründet und beklagen ihre Probleme. Eine 47  Jahre alte

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