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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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noch nie eine Enzephalitis gehabt hatten. Bald darauf sprachen Ärzte und Eltern vom »gehirngeschädigten Kind« – obwohl kein Arzt einen Gewebeschaden im Denkorgan nachweisen konnte. Auch die folgende, leicht einschränkende Bezeichnung »minimal gehirngeschädigtes Kind« unterstellte den Kindern einen organischen Defekt – für den es freilich noch immer keinen wissenschaftlichen Beweis gab.
    Unter den Eltern der betroffenen Kinder dagegen war der Begriff ausgesprochen beliebt, weil ja nicht sie selbst, sondern der »Hirnschaden« die Probleme ihrer Söhne und Töchter verursacht hatte. Da dieser angebliche Schaden sich aber weiterhin hartnäckig jeder wissenschaftlichen Beschreibung entzog, wurden weitere Namensänderungen erforderlich: Aus dem »hyperkinetischen und unaufmerksamen« Kind wurde schließlich der bis heute gebräuchliche Begriff ADHS .
    Der wissenschaftliche Vater von ADHS ist entsetzt
    Sobald das Leiden als biologische Erkrankung durchgesetzt war, begannen Ärzte damit, an den Kindern Tabletten auszuprobieren. Den Anfang machte 1937 der amerikanische Kinderarzt Charles Bradley aus dem US -Staat Rhode Island, der in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder arbeitete. [41] Auf gut Glück verabreichte er Kindern im Alter von fünf bis vierzehn Jahren Amphetamin. Bradley war überrascht von der Wirkung. Das vermeintliche Aufputschmittel machte die Kinder nicht etwa wild – sondern ruhig. Der Arzt sprach von einer »paradoxen Wirkung«, die ihm freilich gefiel: Viele der insgesamt 30  Kinder, denen er die Substanz gab, seien »deutlich unterwürfiger« geworden.
    Die Versuche des Doktor Bradley gerieten für einige Jahre in Vergessenheit, ehe amerikanische Mediziner Anfang der 60 er Jahre wieder zu Amphetaminen griffen, um zu sehen, wie sie auf »hyperkinetische« Kinder wirken. Federführend bei den Experimenten war Leon Eisenberg, ein 41  Jahre alter Nervenarzt. [42] Abends spielte Eisenberg zu Hause mit seiner kleinen Tochter und seinem kleinen Sohn; tagsüber kümmerte er sich um schwierige Kinderpatienten. Zuerst probierte er in einer klinischen Studie Dextroamphetamin aus, später mussten die kleinen Probanden Methylphenidat schlucken. Eisenberg beobachtet ebenfalls die paradoxe Wirkung: Die tägliche Dosis Aufputschmittel verwandelt temperamentvolle Kinder in gefügige Schüler.
    Eigentlich hätte es Eisenberg stutzig machen müssen: Wie kann es sein, dass die Aufputschmittel die Kinder nicht wilder machen, sondern ihren Elan bremsen? Aber er und die anderen Kinderpsychiater damals nahmen die paradoxe Wirkung einfach als Bestätigung dafür, dass mit dem Gehirn der jungen Pillenschlucker etwas nicht stimme. Die Kleinen hätten eben »Hirnschäden« oder »biochemische Veränderungen« im Kopf und würden genau deshalb so sonderbar auf die Aufputschmittel reagieren. Und im Umkehrschluss bedeutete das: Wenn ein Kind Aufputschmittel schluckt und die paradoxe Reaktion zeigt, dann muss es einen erblichen Hirnschaden haben. [43]
    Leon Eisenberg veröffentlichte die Ergebnisse zu Methylphenidat Anfang der 70 er Jahre. Und diesmal gerieten die Experimente an den Kindern nicht in Vergessenheit. Sein Aufsatz sprach sich herum, die Verschreibungszahlen stiegen – die Ära des Ritalin hatte begonnen. Zur gleichen Zeit verhalf der ehrgeizige Eisenberg dem Krankheitsbild zu höheren Weihen. Auf einem Seminar der Weltgesundheitsorganisation 1967 plädierten er und sein Kollege Mike Rutter mit Nachdruck dafür, die angebliche Hirnstörung als eigenständige Krankheit in den Katalog der psychiatrischen Leiden aufzunehmen. Einigen der eher psychosomatisch geprägten Ärzte in der Runde ging das zu weit, aber Eisenberg hat sich damals durchgesetzt: Im Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen der amerikanischen Psychiatervereinigung APA ist die »hyperkinetische Reaktion auf die Kindheit« im Jahr 1968 aufgetaucht und steht bis heute darin, allerdings unter dem heute gebräuchlichen Namen ADHS . Leon Eisenberg übernahm die Leitung der Psychiatrie am renommierten Massachusetts General Hospital in Boston und wurde zu einem der bekanntesten Nervenärzte der Welt. Auch im Alter von 86 fuhr der Professor noch jeden Tag in sein Büro an der Harvard Medical School. [44]
    Doch ausgerechnet er, der wissenschaftliche Vater von ADHS , hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Sein Tun als junger Arzt sieht er inzwischen kritisch, und ungläubig verfolgte er, wie ADHS zum

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