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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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Einflüsse und persönlichen Erfahrungen. Eine Scheidung etwa erhöht die Wahrscheinlichkeit, depressiv zu werden, um 40  Prozent.
    Mit seinem Buch über die biologische Wurzel von Glück und Trauer hat der amerikanische Schriftsteller Richard Powers also einen Roman verfasst, der in doppelter Hinsicht fiktiv ist. Nicht nur die Handlung ist frei erfunden, sondern auch die wissenschaftliche Grundlage des Buchs entpuppt sich als Märchen.
    Es liegt auf der Hand, warum die Geschichte von der genetischen Verwundbarkeit beim Publikum so erfolgreich war. Sie spendet den betroffenen Menschen Trost und entlastet das Umfeld. Wenn der Grund für die Erkrankung letztlich in den Genen liegt, dann hat ja niemand Schuld.
    Das Bedürfnis, seelische Erkrankungen auf die Biologie schieben zu können, ist auch deshalb so verbreitet, weil pharmazeutische Firmen es nach Kräften nähren – natürlich um ihre Produkte an den Konsumenten zu bringen. Wer eine psychische Erkrankung auf eine biologische Ursache reduziert, der kann sie trefflich mit Arzneimitteln behandeln.
    Zappelphilipp ward erfunden
    Ein Paradebeispiel dafür, wie man ein angeblich erbliches Hirnleiden konstruiert hat, ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS . Diesen Zustand diagnostizieren Mediziner immer häufiger: Nach Angaben des Robert Koch-Instituts in Berlin sind allein in Deutschland inzwischen 600   000  Kinder und Jugendliche davon betroffen.
    Bis heute haben Forscher zwar keine Gene präsentieren können, die hinter dem Syndrom stecken. Ebenso wenig lässt sich die Diagnose ADHS anhand biologischer Merkmale stellen, etwa indem man das Gehirn eines Kindes scannt. Nichtsdestotrotz versuchen pharmazeutische Unternehmen, ADHS in der Öffentlichkeit ganz gezielt als angeborene Behinderung des Gehirns darzustellen. [40] Die Firma Medice aus Iserlohn etwa hat eine Fachtagung zum Thema auf einem Kongress der Kinder- und Jugendpsychiater in Berlin finanziell unterstützt. Der Konzern Novartis hat sogar ein Bilderbuch für Kinder auf den Markt gebracht, das die Erkrankung altersgerecht für potentielle Patienten aufbereitet. Die Story dreht sich um den Kraken Hippihopp, der »fürchterlich ausgeschimpft« wird, weil er »überall und nirgends ist« und ihm viele Dinge misslingen. Aber zum Glück gibt es Frau Doktor Schildkröte. Sie erkennt, was der kleine Krake hat: »ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom!« Und sie weiß, was dagegen hilft: »eine kleine weiße Tablette«.
    Für ADHS -Eltern wirkt die Darstellung, das Leiden sei erblich bedingt, entlastend, weil sie von dem Vorwurf befreit werden, die Umwelt – sprich: ihre Erziehung! – habe Anteil an den Problemen ihrer Kinder. Auf einem Informationsabend zu ADHS für Eltern in der Hamburger Klinik-Nord ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung durch den vollbesetzten Saal, als ein Arzt zu Anfang seines Vortrages behauptete, die betroffenen Kinder hätten eine »genetische Vulnerabilität«, also eine erblich bedingte Verwundbarkeit für ADHS .
    Wer dies glaubt, der erleichtert nicht nur sein Gewissen, sondern er hat auch keine Bedenken, seinem Kind jeden Tag Psychopillen zu verabreichen: auf dass damit Tobemarie und Zappelphilipp im Sinne der Eltern funktionieren. Die handelsüblichen Marken wie Ritalin, Concerta oder etwa Medikinet enthalten alle die Substanz Methylphenidat. Eine Substanz, mit der eine ganze Generation aufwächst.
    Eine Droge macht Karriere
    Seit Erfindung der Diagnose in den 60 er Jahren hat sich der Konsum von Methylphenidat in etlichen Industrienationen in einem aberwitzigen Ausmaß gesteigert. In Deutschland etwa ist der Verbrauch an Methylphenidat von 34  Kilogramm im Jahr 2001 auf 1429 Kilogramm in 2007 explodiert. Rein rechnerisch gibt es in jeder Schulklasse ein Kind, das die Pille zum Pausenbrot bekommt. Erstaunlich viele der betreffenden Eltern finden nichts dabei. Für sie ist ADHS eine Krankheit, gegen die es halt Medikamente gibt. Es ist in der westlichen Welt Routine geworden, Schulkinder mit Psychopillen ruhigzustellen.
    Wie konnte es so weit kommen? Wer hat die Krankheit ADHS eigentlich erfunden?
    Der entscheidende Dreh war, allzu temperamentvollen und unkonzentrierten Grundschülern einen organischen Hirnschaden anzudichten. Das spiegelt sich in dem Begriff »postenzephalitisches Syndrom« wider, den Mediziner 1935 einführten: Das unliebsame Verhalten der Kinder war demnach Folge einer Gehirnentzündung – selbst wenn die betroffenen Schüler

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