Gene sind kein Schicksal
Massenphänomen wurde.
Wenn man mit Eisenberg redet, kommt er schnell auf ein Versäumnis zu sprechen, das ihn bis heute reut. »Ich hätte die Mittel eigentlich auch an gesunden Kindern testen müssen«, sagt er und erzählt, wie das dann eine jüngere Kollegin, die Psychiaterin Judith Rapoport, nachgeholt hat. »Judy hatte den Nerv und den Mut, das zu tun, was ich unterließ. Sie nahm ihre eigenen Kinder und Kinder von ihren Mitarbeitern und machte mit ihnen eine Beobachtungsstudie.«
Insgesamt hat Rapoport 14 gesunde Jungen zwischen 6 und 12 Jahren untersucht, die alle sehr gut in der Schule waren. Die Knaben bekamen morgens eine Pille Dextroamphetamin serviert. [45] Und siehe da: Auch diese normalen Kinder zeigten die paradoxe Wirkung, auch sie wurden durch das Aufputschmittel ruhiggestellt. Die paradoxe Reaktion ist also mitnichten ein Hinweis auf eine vermeintliche Hirnstörung, zumal gesunde und angeblich hirngeschädigte Kinder identisch reagieren. Dass sie ruhig werden, liegt an ihrem jungen Alter, wie sich herausstellte: Erst im Erwachsenenalter verspüren Menschen Euphorie, wenn sie aufputschende Medikamente nehmen.
»Die paradoxe Wirkung der verdammten Amphetamine hängt also vom Alter der Konsumenten ab – und gar nicht davon, ob sie ADHS haben!«, ruft Eisenberg. Das bedeutet: Ganz gleich, ob ein Kind nun organisch gestört im Kopf wäre oder nicht: Wenn es Amphetamine nimmt, wird es ruhiger. Doch gerade diese Reaktion haben Kinderpsychiater immer als Beleg für einen erblichen Hirnschaden gesehen.
Es ist dieser pharmakologische Effekt, auf dem der Mythos von Zappelphilipp aufbaut. »Die genetische Veranlagung für ADHS wird vollkommen überschätzt. ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung«, sagt Eisenberg. Und er fährt in seiner Kritik fort: Eigentlich sollten Ärzte viel gründlicher die psychosozialen Faktoren ermitteln, die zu einem gestörten Verhalten führen könnten. Gibt es Streitigkeiten zwischen den Eltern, leben Mutter und Vater zusammen, gibt es Probleme in der Schule? Solche Fragen seien wichtig, aber sie nähmen viel Zeit in Anspruch, sagt Eisenberg und seufzt. »Eine Pille zu verschreiben dagegen geht ganz schnell.« Der emeritierte Professor schaut grimmig drein. Den ADHS -Geist, den er rief, wird er nicht mehr los.
Stress der Eltern schadet dem Kind
Während ein ADHS -Gen bis heute nicht gefunden ist, offenbaren viele Studien die Bedeutung der Umwelt für das Gehirn. Diese Einflüsse können bereits wirken, wenn ein Kind noch gar nicht geboren ist. Substanzen wie Nikotin, Drogen und polychlorierte Biphenyle, sogenannte Weichmacher, gelangen durch die Plazenta in den sich entwickelnden Fetus und können sich in seinem Körper anreichern. Alkohol stört die Entwicklung der grauen Zellen, polychlorierte Biphenyle wirbeln den Haushalt der Botenstoffe im Gehirn durcheinander. [46] Wenn das Denkorgan eines ungeborenen Menschen diesen Schadstoffen ausgesetzt ist, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, später im Leben ein Verhalten zu zeigen, das für ADHS typisch ist. Eine gestresste Mutter gehört ebenfalls zu den vorgeburtlichen Risikofaktoren: Mamas Stresshormone gelangen in das Kind und beeinträchtigen dessen Reaktion auf Stress. Auf diese Weise wird womöglich nicht nur einer späteren Hyperaktivität der Boden bereitet, sondern vielleicht auch anderen seelischen Erkrankungen.
Nach der Geburt hat das Elternhaus einen erheblichen Einfluss: Die meisten Kinder mit ADHS wachsen in sozial benachteiligten Familien auf, sind Sprösslinge von Alleinerziehenden und leben in Patchwork-Familien. Übermäßiger Fernsehkonsum ist ebenfalls ein Risikofaktor: Wer stundenlang vor einem Bildschirm sitzt, statt draußen zu toben, beeinträchtigt die Entwicklung des Gehirns, weil sich die Nervenzellen weniger gut vernetzen. Das hat eine Studie an mehr als 1000 Kindern offenbart, die über einen Zeitraum von 13 Jahren (vom Alter 3 bis 15 ) beobachtet worden sind. Je mehr die kleinen Probanden fernsahen, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Jugendliche eine gestörte Aufmerksamkeit hatten. [47]
Womöglich verschlimmert ausgerechnet die Einnahme des ADHS -Mittels Methylphenidat diesen Effekt. Seine dämpfende pharmakologische Wirkung hält die Kleinen davon ab, sich körperlich und geistig auszuleben. Dem Gehirn können dadurch Erfahrungen und Erlebnisse vorenthalten bleiben, die es braucht, um normal zu reifen. Denn wenn sich körperliche und
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