Gene sind kein Schicksal
in denen sie durch Tunnel flitzen, auf Laufrädern rennen und klettern konnten. Die stimulierende Umwelt wirkte wie eine gute Medizin auf die verschrumpelten Gehirne. Die Tiere schnitten in Lerntests wieder so gut ab wie gesunde Artgenossen und konnten auch Gedächtnisinhalte wieder normal abrufen. Dank der anregenden Umwelt war es den übrig gebliebenen Nervenzellen gelungen, den Ausfall der abgestorbenen Neuronen auszugleichen.
Diese Kompensation war verbunden mit einer veränderten Epigenetik in den Nervenzellen des Hippocampus und des Kortex. Die anregende Umwelt hatte nämlich die Art und Weise verändert, nach der das Erbgut in den Zellen verpackt war. Bestimmte Verpackungsproteine (Histon 3 und Histon 4 ) waren außergewöhnlich stark acetyliert. Die Folge: Die in dem Gebiet liegenden Gene konnten besser abgelesen werden und machten die Nervenzellen besonders erregbar und plastisch.
Den gleichen Effekt konnten André Fischer und seine Mitarbeiter mit einem pharmakologischen Wirkstoff herbeiführen. Sie gaben Mäusen mit Hirnschwund eine Substanz, die zu einer erhöhten Acetylierung führt: Auch diese Tiere konnten besser lernen und Gedächtnisinhalte abrufen.
Was Hirnzellen süchtig macht
Epigenetische Mechanismen scheinen auch bei der Sucht nach Alkohol und illegalen Drogen eine Rolle zu spielen. Suchtstoffe entfalten ihre abhängig machende Wirkung, indem sie auf unser Belohnungszentrum im Gehirn einwirken, zu dem eine Struktur namens Nucleus accumbens gehört. Diese Struktur ist normalerweise für Wonnegefühle zuständig, wie man sie etwa bei einem Festschmaus oder einem amourösen Abenteuer verspüren mag. Aber auch Drogen wie Kokain wirken auf den Nucleus accumbens, und zwar so heftig, dass nur noch die Droge das glücklich machende Gefühl auszulösen vermag. In kokainsüchtigen Tieren sind die Nervenzellen des Nucleus accumbens stark verändert: Weil sie überdurchschnittlich viele Fortsätze haben, sehen sie wie kleine Büschel aus. Und wegen der vielen Fortsätze können die Nervenzellen untereinander besonders intensiv Informationen austauschen – was die Zellen gleichsam süchtig macht nach dem nächsten Kick.
Diese Verwandlung einer normalen Nervenzelle in eine süchtige Nervenzelle hängt von einem Gen (namens
cdk
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) ab. Und just dieses Gen wird epigenetisch verändert, wenn man Ratten Kokain verabreicht: Viermal mehr Acetylgruppen als gewöhnlich finden sich daran, so dass
cdk
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angeschaltet wird. Das heißt also: Über eine veränderte Epigenetik legt das Kokain ein biologisches Suchtgedächtnis an. Die Nervenzellen des Nucleus accumbens bilden in der Folge zusätzliche Fortsätze aus und wollen immer stärker erregt sein – das Gehirn ist auf Droge.
Ein neues Verständnis von seelischen Leiden
Von den mehr als 200 verschiedenen Zelltypen des Menschen sind keine so empfänglich für Signale aus der Außenwelt wie die Nervenzellen. Um Erfahrungen zu erfassen oder Gedächtnisinhalte zu speichern, ändern Nervenzellen unentwegt ihre epigenetische Signatur – hier wird ein Gen gezielt angeschaltet, dort ein anderes ausgeschaltet. Diese dynamische Signatur der Nervenzellen stellt vermutlich auch die Angriffsfläche für Einflüsse dar, die das Risiko für seelische Erkrankungen erhöhen. Diese Einflüsse verändern womöglich die Art und Weise, wie das Erbmolekül DNA verpackt ist. Wenn dadurch bestimmte Gene nicht mehr abgelesen werden können, dann schwäche dies die Plastizität der Nervenzellen, befürchtet der Göttinger Hirnforscher André Fischer: Irgendwann werde ein kritischer Punkt erreicht, an dem neurologische und psychische Erkrankungen entstehen.
Zu den abträglichen Einflüssen gehören nicht nur Umweltgifte und Suchtstoffe, sondern auch soziale Faktoren wie andauernder Stress und Überforderung. Schädigen diese Faktoren beispielsweise bestimmte Nervenzellen des präfrontalen Kortex, dann können Psychosen entstehen. Wird dagegen die Plastizität der Nervenzellen des Hippocampus gestört, kann dies zu Morbus Alzheimer führen. Die Veränderung der epigenetischen Signatur der Nervenzellen hält Fischer für einen zentralen Krankheitsauslöser. In ihr sei das Nadelöhr seelischer Erkrankungen zu sehen.
Doch in der Psychiatrie herrscht ein anderes, ein veraltetes Krankheitsverständnis vor. Es regiert die Biologie: Erkrankungen des Gehirns werden auf genetische Ursachen zurückgeführt und mit Tabletten behandelt. Während die Psychotherapie an den Rand gedrängt
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