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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Al Ries lesen.«
    »Und wo läßt sich eine so tiefe Kenntnis vom Leben erwerben?«
    »Im Leben«, verkündete Chanin salbungsvoll.
    Tatarski schielte nach dem Buch, das vor Chanin auf dem Tisch lag. Es sah haargenau so aus wie die Dale-Carnegie-Geheimausgabe für ZK-Mitglieder – dreistellige Exemplarnummer auf dem Umschlag und der Titel mit Schreibmaschine geschrieben: Virtuelles Busineß und Kommunikation. In dem Buch steckten einige Lesezeichen, auf einem konnte Tatarski den Vermerk lesen: Sugg. Bewußt.spalt.
    »Computerliteratur?« fragte er.
    Chanin griff nach dem Buch und versenkte es im Schreibtischkasten.
    »Nein«, sagte er unwirsch. »Virtuelles Busineß – wie‘s draufsteht.«
    »Was ist das?«
    »Wenn man es kurz sagen will: Die Art Geschäfte, bei denen hauptsächlich Raum und Zeit über den Tisch gehen.«
    »Wie das denn?«
    »Na, wie bei uns. Guck dich doch um. In unserem Land wird schon lange nichts mehr produziert. Hast du jemals einen Entwurf für ein Produkt gemacht, das in Rußland hergestellt wird?«
    »Kann mich nicht entsinnen«, sagte Tatarski. »Das heißt, warten Sie, da war einer – für Kalaschnikows. Aber das war mehr so Imagepflege.«
    »Da siehst du‘s. Worin besteht die Einmaligkeit des russischen Wirtschaftswunders? Die Einmaligkeit des russischen Wirtschaftswunders besteht darin, daß die Wirtschaft zügig in den Arsch geht, während das Busineß floriert, prosperiert und die internationale Arena betritt. Und jetzt denk mal nach: Womit handeln die Leute um dich herum? Na?«
    »Womit?«
    »Mit Dingen, die absolut nichtmateriell sind. Sendezeit und Anzeigenraum zum Beispiel – in der Zeitung oder an den Plakatwänden. Aber Zeit ist Zeit und kann im Grunde keine Sendezeit sein, so wie der Raum an sich kein Anzeigenraum sein kann. Zeit und Raum durch eine vierte Dimension zu verknüpfen, das ist zuerst dem Physiker Einstein gelungen. Er hatte da so eine Relativitätstheorie, hast du vielleicht gehört. Die Sowjetmacht hatte ihre eigene Theorie, die funktionierte genauso, allerdings paradox, kennst du auch: Man hat die Häftlinge antreten lassen, ihnen einen Spaten in die Hand gedrückt und befohlen, einen Graben vom Zaun bis zum Mittag auszuheben. Und heutzutage macht man es sich ganz einfach: Eine Minute Prime Time kostet so viel wie zwei Spalten Farbe überregional.«
    »Also ist das Geld die vierte Dimension?« fragte Tatarski.
    Chanin nickte.
    »Und nicht nur das«, sagte er. »Vom Standpunkt der monetaristischen Phänomenologie ist es die Substanz, aus der die Welt besteht. Es hat in Amerika einen Philosophen Robert M. Pirsig gegeben, der behauptete, die Welt bestünde aus moralischen Werten. Das konnte einem damals in den Sechzigern so Vorkommen: The Beatles, LSD und so. Seitdem hat sich vieles geklärt. Schon mal was vom Streik der Kosmonauten gehört?«
    »Mir ist so«, antwortete Tatarski, der sich tatsächlich entsann, etwas darüber in der Zeitung gelesen zu haben.
    »Unsere Kosmonauten kriegen zwanzig-, dreißigtausend Dollar pro Flug. Die Amis kriegen zwei – bis dreihunderttausend. Da haben unsere gesagt: Nein, zu dreißig Mille fliegen wir nicht, wir wollen zu dreihundert fliegen wie die anderen. Was sagt uns das? Es sagt uns, die fliegen nicht etwa zu den Blinkepünktchen in unbekannten Fernen, sondern zu konkreten Summen in harter Währung. Das liegt in der Natur des Kosmos. Und die Nichtlinearität von Raum und Zeit besteht darin, daß wir und die Amis dieselbe Menge Brennstoff verfliegen und dieselbe Menge Kilometer und landen doch bei völlig verschiedenen Summen. Das ist eines der fundamentalen Rätsel des Universums.«
    Chanin verstummte plötzlich und zündete sich eine Zigarette an; er schien das Gespräch beenden zu wollen.
    »Na dann. An die Arbeit.«
    »Kann man das mal lesen?« fragte Tatarski und nickte zu dem Schreibtischfach hin, wo Chanin seinen geheimen Leitfaden deponiert hatte. »Zur Hebung der Allgemeinbildung?«
    »Es kommt der Tag«, sagte Chanin und lächelte honigsüß.
    Doch auch ohne geheime Leitfäden gewann Tatarski allmählich Einblick in die kommunikativen Strukturen im Zeitalter des virtuellen Busineß. Indem er beobachtete, wie seine Arbeitskollegen sich verhielten, hatte er schnell heraus, was aller Kommunikation zugrunde lag: »Schwarze PR« hieß es im Jargon, Chanin benutzte vorzugsweise die Langform – »black public relations«. Als Tatarski dem Ausdruck zum erstenmal begegnete, kam er ihm seltsam anachronistisch vor:

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