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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Heckscheibe zurückfanden. Er zückte das Büchlein und schlug die letzte Seite auf.
    Das Hauptübel besteht darin, daß die Leute ihre Kommunikation auf sinnlos-unverbindlichen Smalltalk reduzieren und dabei in gieriger, listiger und rücksichtsloser Weise ihren analen Impuls exhibitionieren – in der Hoffnung, jemand könnte oral darauf abfahren. Geschieht das, hat man gewonnen, gerät in orgiastische Verzückung und spürt für Sekunden den sogenannten Herzschlag des Lebens.
    Asadowski und Morkowin saßen schon seit dem Morgen im Vorführsaal. Vor der Tür liefen Leute auf und ab, schwätzten über Politik, schimpften eifrig auf die Regierung. Tatarski vermutete, daß es Texter aus der Politabteilung waren, die korporativen Müßiggang pflegten. Einzeln wurden sie nach drinnen gerufen und standen ihren Vorgesetzten durchschnittlich zehn Minuten Rede und Antwort. Es schien immerhin um Staatsaktionen zu gehen – Jelzins Stimme, aufgedreht bis zum Anschlag, drang mehrmals aus dem Saal. Das eine Mal hörte Tatarski ihn unwirsch brabbeln:
    »Wozu brauchen wir so viele Piloten? Wir brauchen einen einzigen Piloten, der zu allem bereit ist! Mein Enkel spielt das oft genug auf seiner Play Station – daher weiß ich das.«
    In einem anderen Fall lief offenbar ein Ausschnitt aus einer Rede an die Nation, Jelzins Stimme klang feierlich und gemessen:
    »Zum erstenmal seit vielen Jahrzehnten hat Rußlands Bevölkerung Gelegenheit, zwischen Herz und Verstand zu wählen. Wähle mit Herz!«
    Ein Entwurf war offenbar abgelehnt worden; es war dem Mann, der da aus dem Saal kam – groß, schnauzbärtig, früh ergraut, einen roten Hefter mit der goldenen Aufschrift ZAR vor sich hertragend – an der Nasenspitze abzulesen. Kurz darauf erscholl Musik: Eine Balalaika klimperte, jemand sekundierte mit urigen Brusttönen, bis Asadowski der Kragen zu platzen schien.
    »Das fliegt aus dem Programm!« brüllte er. »Das will ich nicht mehr sehen! Da ist mir der Lebed noch lieber, der hat wenigstens Haare auf dem Kopf. Der nächste.«
    Tatarski kam als letzter an die Reihe. Der abgedunkelte Saal, wo Asadowski seiner harrte, war von einem düsteren Chic, eine Spur archaisch, so als wäre er in den dreißiger oder vierziger Jahren eingerichtet und ausgestattet worden. Beim Eintreten machte Tatarski sich unwillkürlich klein, ging nur zaghaft zur ersten Reihe vor und hockte sich auf die Stuhlkante neben Asadowski, der Rauch in das Licht des Videoprojektors blies. Asadowski gab ihm die Hand, ohne ihn anzusehen – sichtlich mißgelaunt. Tatarski wußte, was los war, Morkowin hatte es ihm am Tag zuvor erklärt:
    »Sie haben uns auf dreihundert runtergefahren. Wegen Kosovo. Weißt du noch, bei den Kommunisten hat ewig die Butter nicht gelangt. Jetzt langt die Rechenzeit nicht. Die Geschichte dieses Landes hat etwas Fatales an sich. Asadowski nimmt neuerdings alle Blindgänger persönlich ab. Auf den Zentral-Render kommt man nur noch mit schriftlicher Genehmigung. Gib dir Mühe.«
    Wie ein Blindgänger – so hieß im Jargon der rohgerenderte Entwurf – aussah, konnte Tatarski nun zum erstenmal erleben. Wäre das Treatment nicht von ihm gewesen, er hätte nie erraten, daß es sich bei dem grünen, von dünnen gelben Strichellinien durchzogenen Schattenriß auf der Leinwand um einen Tisch handeln sollte, an dem Monopoly gespielt wurde. Rote Pfeile stellten die Chips, zwei blaue Flecken die Würfel dar. Am unteren Leinwandrand erschienen ständig neue Ziffernpaare von eins bis sechs, die ein Zufallsgenerator ausgab. Die Züge folgten der Augenzahl – man sah, hier wurde ehrlich simuliert. Die Spieler selbst waren noch nicht fertig: An ihrer Statt saßen zwei aus skalierten Linien und Punktgelenken bestehende Skelette am Tisch, einzig die Gesichter waren schon in groben Polygonen gerendert: Salman Radujews Bart ähnelte einem roten, an die Kinnlade montierten Ziegelstein; Boris Beresowski war anhand der blaßlila Dreiecke seiner glattrasierten Wangen zu identifizieren. Wie nicht anders zu erwarten, war Beresowski auf der Siegerstraße.
    »Ja«, sagte er, während er die Würfel zwischen den grünen Pfeilen seiner Finger schüttelte, »mit Monopoly hat man im guten alten Rußland seine Probleme. Man kauft zum Beispiel ein paar Straßen, und hinterher stellt sich raus, daß da Leute wohnen.«
    Radujew lachte.
    »Das ist nicht nur in Rußland so. Das gibt es überall. Und ich sag dir noch was, Boris: Die Leute wohnen da nicht nur, die bilden sich ein,

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