Genesis Secret
enttäuschten Seufzern und den Jubelschreien der Gäste nach zu schließen, lief wahrscheinlich gerade ein türkisches Fußballspiel. Vielleicht Galatasaray gegen die heimische Mannschaft Diyarbakir. Türken gegen Kurden. Eine Rivalität wie zwischen Real Madrid und Barcelona, nur wesentlich brisanter.
Derya reichte nochmals Baklava, direkt aus dem silbernen Karton der Bäckerei. Rob fragte sich, ob man sich zu Tode fressen konnte. Franz Breitner redete heftig gestikulierend auf seine Mitarbeiter ein: »Aber wenn es kein Totentempel und keine Grabanlage ist, was ist es dann? Kann mir das vielleicht jemand sagen? Es gibt keine Siedlung, keine Spuren von Domestizierung, nichts. Es muss ein Tempel sein, da sind wir uns doch alle einig. Und ein Tempel für wen oder was, wenn nicht für die Ahnen? Er wurde doch sicher zu Ehren der toten Jäger errichtet, oder hat jemand eine bessere Idee?«
Als die zwei anderen Archäologen nur mit den Achseln zuckten, fuhr Breitner fort: »Und wozu sollen die Nischen da sein, wenn nicht für Knochen?«
»Hier bin ich einer Meinung mit Franz«, schaltete sich Christine in die Unterhaltung ein. »Ich glaube, die Leichen der Jäger wurden dorthin gebracht und dekarniert…«
Rob rülpste dezent. »Entschuldigung. Dekarniert?«
Breitner wandte sich ihm zu. »Das heißt, sie wurden von allen Weichteilen befreit. Das machen die Zoroastrier heute noch. Und einige glauben, dass der Zoroastrismus hier seinen Ursprung hat.«
»Praktisch alle Religionen haben hier ihren Ursprung«, sagte Christine. »Dekarnation ist eine Bestattungsmethode, bei der man die Leiche an einen speziellen Ort bringt, um sie von wilden Tieren oder Geiern und Raubvögeln auffressen zu lassen. Wie Franz ganz richtig sagt, kann man diesen Brauch bei zoroastrischen Glaubensgruppen in Indien heute noch beobachten. Sie nennen es Himmelsbestattungen - die Leichen werden den Himmelsgöttern überlassen. Übrigens haben viele frühe mesopotamische Religionen Götter in Gestalt von Bussarden und Adlern verehrt. Wie der assyrische Dämon, den wir im Museum gesehen haben.«
»Eine sehr hygienische Methode. Diese Bestattungsform. Dekarnation.« Dieser Einwurf kam von Iwan, dem jüngsten Wissenschaftler, einem Paläobotaniker.
Franz Breitner nickte nachdrücklich und fuhr fort: »Und außerdem - wer weiß - vielleicht wurden die Knochen hinterher woandershin gebracht. Oder sie wurden weggeschafft, als Göbekli wieder verschüttet wurde. Das wäre eine Erklärung dafür, warum wir keine Skelette gefunden haben.«
Rob stutzte. »Wie soll ich das verstehen? >Als Göbekli wieder verschüttet wurde«
Franz Breitner stellte seinen leeren Teller auf den Parkettboden. Als er wieder aufschaute, lag in seinen Zügen das zufriedene Lächeln von jemand, der gleich ein pikantes Geheimnis verrät. »Das, mein Bester, ist das größte Geheimnis überhaupt! Und dieser Punkt wurde in dem Artikel, den Sie gelesen haben, nicht einmal angeschnitten!«
Christine lachte. »Aufgepasst, Rob, jetzt kriegst du dein Exklusivinterview!«
»Zirka achttausend vor Christus …« Um des Effekts willen machte Breitner eine Pause, »wurde ganz Göbekli Tepe wieder vergraben. Zugeschüttet. Vollständig mit Erde bedeckt.«
»Aber … woher wissen Sie das?«
»Die Hügel sind künstlich angelegt. Die Erde hat sich nicht durch natürliche Kolmation angehäuft. Die ganze Tempelanlage wurde zirka achttausend vor Christus absichtlich mit Tonnen von Erde und Schlamm zugeschüttet. Sie wurde versteckt.«
»Das ist aber wirklich eigenartig.«
»Was die Sache noch erstaunlicher macht, ist die Kraftanstrengung, die das gekostet hat. Und wie sinnlos das Ganze war.«
»Inwiefern …?«
»Denken Sie nur an den Aufwand, um erst einmal die ganze Anlage zu errichten! Die Steinkreise aufzustellen und sie mit Reliefs und Friesen zu verzieren muss sich über Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte hingezogen haben. Und das in einer Zeit, in der die durchschnittliche Lebenserwartung zwanzig Jahre betrug.« Breitner wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Wir nehmen an, dass die Jäger und Sammler in Zelten, in Lederzelten, gelebt haben, als sie die Anlage erbauten. Ernährt haben sie sich vom Wild der Umgebung. Generation um Generation. Und das alles ohne Keramik oder Ackerbau oder irgendwelche Werkzeuge außer Feuersteinen…«
Christine trat einen Schritt näher. »Ich glaube, damit habe bereits ich Rob gelangweilt…«
Rob hob die Hand.
»Nein, nein,
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