Genesis Secret
anderen Straßenseite schnitt ein Mann mit einem Pizzamesser Baklava. Und wieder: Peng!
Dann sah Rob ein altes Motorrad: eine alte, schwarze, ölige englische Triumph. Sie hatte eine Fehlzündung nach der anderen. Ihr Besitzer war abgestiegen und trat mit dem linken Fuß wütend gegen den Hinterreifen. Rob wollte sich gerade wieder ins Zimmer zurückziehen, als ihm etwas ins Auge fiel: Polizei. Aus zwei am Straßenrand stehenden Autos stiegen drei Polizisten. Zwei von ihnen in schweißfleckigen Uniformen, der dritte in einem eleganten blauen Anzug mit einer altrosa Krawatte. Die Polizisten gingen fünfzehn Meter unter ihm auf den Eingang von Christines Wohnblock zu und blieben davor stehen. Einer von ihnen drückte auf einen Klingelknopf.
In Christines Wohnung klingelte es sehr laut.
Christine kam aus dem Schlafzimmer; sie war fertig angezogen.
»Christine, die Polizei…«
»Ich weiß, ich weiß! Guten Morgen, Robert!«
Ihre Miene war angespannt, aber nicht ängstlich. Sie ging zur Sprechanlage und betätigte den Türöffner.
Rob schlüpfte in seine Stiefel. Sekunden später waren die Polizisten in der Wohnung - im Wohnzimmer. Sie wandten sich erst Christine zu.
Der Mann in dem schicken Anzug war höflich, redegewandt, ein bisschen halbseiden und nicht älter als dreißig Jahre. Er sah Rob neugierig an. »Sie sind wohl…?«
»Rob Luttrell.«
»Der englische Journalist?«
»Eigentlich bin ich Amerikaner, aber ich lebe in London …«
»Hervorragend. Das trifft sich bestens.« Der Polizist lächelte, als hätte er einen unerwartet hohen Scheck erhalten. »Wir sind hier, um mit Miss Meyer über den schrecklichen Tod ihres Kollegen Franz Breitner zu sprechen. Aber mit Ihnen würden wir uns auch gern unterhalten. Vielleicht später?«
Rob nickte. Er hatte damit gerechnet, irgendwann der Polizei zu begegnen, aber seltsamerweise hatte er ein schlechtes Gewissen, dass das ausgerechnet hier passierte: in Christines Wohnung, um neun Uhr morgens.
Möglicherweise würde der Polizist sein schlechtes Gewissen ausnutzen. Sein Lächeln hatte etwas Anzügliches und Überlegenes. Er schlenderte zum Schreibtisch, dann wandte er seinen hochnäsigen Blick wieder Rob zu.
»Ich bin Inspektor Kiribali. Da wir zuerst mit Miss Meyer sprechen möchten, und zwar allein, würden wir es begrüßen, wenn Sie für etwa eine Stunde die Wohnung verlassen könnten.«
»Na schön, meinetwegen…«
»Aber entfernen Sie sich nicht zu weit. Nur eine Stunde. Dann würden wir gern mit Ihnen weitermachen.« Wieder dieses Lächeln, wie eine Kobra. »Ginge das, Mister Luttrell?«
Rob sah Christine an. Sie nickte unglücklich. Rob bekam erneut Gewissensbisse: diesmal, weil er Christine mit diesem unheimlichen Kerl allein lassen würde. Er schnappte sich seine Jacke und verließ die Wohnung.
Die nächste Stunde verbrachte er auf einem schweißtreibenden Plastikstuhl in einem lärmenden Internetcafé, wo es ihn einige Mühe kostete, den ächzenden älteren Mann in seinem Bäcker-Overall auszublenden, der neben ihm ganz unverhohlen auf lesbischen Pornoseiten surfte.
Rob versuchte, dem Geheimnis der Zahlen in Breitners Notizbuch auf die Spur zu kommen. Er gab sie in jede erdenkliche Suchmaschine ein, jonglierte mit ihnen, arrangierte sie immer wieder neu. Was bedeuteten die Zahlen? Mit Sicherheit waren sie ein Anhaltspunkt, vielleicht sogar der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Möglicherweise handelte es sich um Seitenzahlen. Aber von welchem Buch? Außerdem waren sie dafür eindeutig zu hoch - 1013?
Der türkische Bäcker hatte seine Surfsession beendet. Mit verdrießlichem Gesicht zwängte er sich an Rob vorbei, der auf seinen Bildschirm starrte und weiter mit den Zahlen jonglierte. Was bedeuteten sie? Waren es geographische Koordinaten? Jahreszahlen? Karbondatierungen? Rob hatte keine Ahnung.
Ein Problem wie dieses, so schien es ihm, wäre am besten zu lösen, wenn man es einfach ruhen ließ: damit sich das Unbewusste ungestört damit beschäftigen konnte. Wie ein Computer, der in einem Hinterzimmer vor sich hin summt. Rob hatte einmal von dem Chemiker Kekule gelesen, der versucht hatte, die Molekularstruktur von Benzol zu bestimmen. Kekule biss sich monatelang die Zähne daran aus - ohne Erfolg. Doch dann träumte er eines Nachts von einer Schlange, die sich in den Schwanz biss: ein uraltes Symbol, ein sogenanntes Ouroboros.
Kekule konnte sich nach dem Aufwachen noch an den Traum erinnern und merkte, dass ihm sein Unbewusstes etwas
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