Genesis Secret
Geduld … ist nicht unerschöpflich. Wenn Sie Sanliurfa bis morgen nicht verlassen haben, werden Sie sich in einer türkischen Gefängniszelle wiederfinden. Dort werden Sie möglicherweise feststellen, dass einige meiner Kollegen im Rechtssystem der Atatürk-Republik meine humanitäre Einstellung hinsichtlich Ihres Wohlergehens nicht teilen.« Er lächelte sie auf die denkbar unaufrichtigste Weise an, und dann war er verschwunden. Das Einzige, was noch an seine Anwesenheit erinnerte, waren die üppigen Rosen, die er im Vorbeigehen flüchtig gestreift hatte; sie nickten und warfen ein paar scharlachrote Blütenblätter ab.
Eine Minute lang saßen Rob und Christine schweigend da. Rob spürte, dass da einiger Ärger auf sie zukam: Er hörte schon die Alarmglocken schrillen. In was gerieten sie da hinein? Die Sache gab journalistisch einiges her, aber war sie ein größeres Risiko wert? Robs Gedanken schweiften in den Irak zurück. Plötzlich dachte er wieder an die Selbstmordattentäterin in Bagdad. Er konnte das Gesicht der Frau immer noch vor sich sehen. Sie war eine schöne junge Frau mit knallrot geschminkten Lippen. Eine Selbstmordattentäterin mit Lippenstift. Und dann hatte sie ihn fast verführerisch angelächelt, als sie nach dem Schalter griff, um sie alle zu töten.
Rob schauderte bei der Erinnerung. Doch der Gedanke an diesen schrecklichen Moment verlieh ihm auch eine gewisse Entschlossenheit: Er hatte die Nase voll davon, bedroht zu werden. Fortgejagt zu werden. Vielleicht sollte er diesmal bleiben und seine Ängste überwinden.
Christine war in diesem Punkt eindeutig nicht zwiegespalten. »Ich werde nicht von hier weggehen.«
»Er wird uns verhaften.«
»Weswegen? Weil wir nachts Auto gefahren sind?«
»Wir sind auf der Grabung eingebrochen.«
»Dafür kann er uns nicht ins Gefängnis werfen. Er blufft nur.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, wandte Rob ein. »Ich … weiß nicht…«
»Kiribali ist doch nur ein kleiner Wichtigtuer. Das ist alles nur Show…«
»Da unterschätzt du diesen Kerl, glaube ich, gewaltig.« Rob schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe mich ein bisschen über ihn erkundigt. Er ist sehr angesehen, aber auch gefürchtet. Angeblich ist er ein hervorragender Schütze. Jedenfalls jemand, den man sich nicht zum Feind machen sollte.«
»Aber wir können unmöglich jetzt schon abreisen. Ich will auf alle Fälle noch mehr über diese Sache herausfinden!«
»Meinst du das mit dem Depot? Im Museum? Was sollte das eigentlich?«
Der Kellner stand herum; er wartete darauf, dass sie gingen. Doch Christine bestellte zwei weitere Gläser süßen rosenfarbenen Tees. Und dann sagte sie: »Die letzte Zeile in Franz’ Notizbuch: Cayönü-Schädel, vgl. Orra Keller. Weißt du, was es mit den Cayönü-Schädeln für eine Bewandtnis hat?«
»Nein«, gestand Rob. »Ich höre.«
»Cayönü ist eine berühmte archäologische Stätte. Fast so alt wie Göbekli. Sie liegt ungefähr hundert Kilometer nördlich von hier. Der Ort, wo zum ersten Mal Schweine domestiziert wurden.«
Der Kellner stellte zwei frische Gläser mit zwei Silberlöffeln auf den Tisch. Rob fragte sich, ob man von zu viel Tee eine Teevergiftung bekommen konnte.
Christine fuhr fort: »Cayönü wird von einem amerikanischen Team ausgegraben. Vor ein paar Jahren haben sie unter einem der zentralen Räume der Stätte eine Schicht aus Schädeln und zerstückelten Skeletten gefunden.«
»Menschliche Schädel?«
Christine nickte. »Und Tierknochen. Untersuchungen ergaben, dass an dieser Stelle sehr viel menschliches Blut vergossen wurde. Seitdem heißt diese Stelle die Schädelkammer. Franz war fasziniert von Cayönü.«
»Und?«
»Die Funde in Cayönü deuten auf eine Art Menschenopfer hin. Diese Auffassung ist jedoch umstritten. Die Kurden glauben nur ungern, dass ihre Vorfahren … blutgierig waren. Wer will das schon! Doch inzwischen sind die meisten Fachleute zu der Ansicht gelangt, dass die Knochen in der Schädelkammer von Menschenopfern stammen. Die Bewohner von Cayönü errichteten ihre Behausungen auf Fundamenten aus Knochen, den Knochen der von ihnen Geopferten.«
»Reizend.«
Christine löffelte etwas Zucker in ihren Tee. »Daher die letzte Zeile in Franz’ Notizbuch. Das Edessa-Depot.«
»Wie bitte?«
»So nennen die Kuratoren des Sanliurfa-Museums das Depot, in dem die präislamischen Funde gelagert sind. Dieser Raum heißt Edessa-Depot.«
Rob verzog das Gesicht. »Entschuldige, Christine, aber
Weitere Kostenlose Bücher